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Sie nehmen hingerissen den beweglichen Kampfstil Domgörgens[59] auf, jedes
Ausweichen in der Hüfte, jedes Vorstrecken des linken Armes, jede tänzelnde De-
fensiv- und Offensivstellung. […] Jedes Abducken, jeder Vorstoß gibt dem Publi-
kum nichts als Bewegung an sich. Es spürt allein Vorteil oder Nachteil, in den die
Gegner geraten. Die Menge will das Auf und Ab eines wirklichen Kampfes, das
Risiko erleben; und nur in diesem Zusammenhange hat sie für den ästhetischen
Reiz der einzelnen Runde Interesse. Das Sportpublikum zu rüffeln, wie es manch-
mal geschieht, weil es pfeift, Urteile angreift, Sympathien und Antipathien hat, mit
akademisch vortrefflichen Boxern nicht einverstanden ist, bleibt eine Entgleisung.
Gerade die Erregbarkeit des Publikums ist der Vorteil, den der Sport, und beson-
ders der Boxkampf vor fast allen anderen öffentlichen Veranstaltungen voraus hat.
Dass die Leute Entscheidungen sehen wollen, soll man ihnen nicht austreiben,
im Gegenteil für geistige und politische Vorgänge nutzbar machen. Der Sport ist
lebendig. Er erfüllt ein Bedürfnis. Daran können seine Feinde nichts ändern und
seine Freunde nur dann, wenn sie das Boxen zu einer abstrakten Sportwissenschaft
machen, so dass man nicht mehr Kämpfen beiwohnt, sondern Kathederdiskussi-
onen.60
Brecht polemisiert gegen die Sportwirklichkeit à la Thiess, indem er die Leibes-
ertüchtigung und das Gesundheitspostulat als großbürgerliche Wunschpro-
jektionen nach umfassender utilitaristischer Funktionalität beschreibt und die
Gleichsetzungs- und Kompensationsversuche von Körper- und Geistesarbeit
kritisiert. „Ich muß zugeben, daß ich die These“, kontert Brecht in Sport und
geistiges Schaffen scharf, „Körperkultur sei die Voraussetzung geistigen Schaffens,
nicht für sehr glücklich halte.“61 Sport aus Hygiene sei „etwas Abscheuliches“62.
Brecht stellt jene Bilder von Boxen infrage, die mit Leistungssteigerung und
Körperveredelung gleichgeschaltet sind und in der diskursiven Schmiede von
Selbstbezwingung und Selbstsystematisierung gehärtet scheinen. Der Sport
habe, so Brecht in Die Todfeinde des Sportes, „hauptsächlich zwei Feinde“63: „Ers-
tens sind da die Leute, die aus ihm mit aller Gewalt eine hygienische Bewegung
machen wollen.“64 In seinen Schriften notiert Foucault:
59 Hein Domgörgen (1898–1972), deutscher Mittelgewichtsboxer
60 Jhering 1980, S. 67f (Hervorh. im Orig.)
61 Brecht 1992d, S. 122
62 Ebd., S. 123
63 Brecht 1992f, S. 224
64 Ebd.
246 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440