Seite - 247 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Wissen ist keine Summe von Erkenntnissen – denn von diesen muss man stets
sagen, ob sie wahr oder falsch, exakt oder ungenau, präzise oder bloße Annäherun-
gen, widersprüchlich oder kohärent sind; keine dieser Unterscheidungen ist für die
Beschreibung des Wissens gültig, das aus einer Gesamtheit von Elementen (Ge-
genständen, Formulierungstypen, Begriffen und theoretischen Entscheidungen)
besteht, die aus ein und derselben Positivität heraus im Feld einer einheitlichen
diskursiven Formation gebildet sind.65
Der zweite Gegner des Sports, so Brecht in aller Konsequenz, sei der „wissen-
schaftliche Fimmel“66, der sich vorzugsweise in der von Thiess ungestüm vertei-
digten „Propagierung des Punkteverfahrens“67 zeige: „Je weiter sich der Boxsport
vom K. o. entfernt, desto weniger hat er mit wirklichem Sport zu tun. Ein Boxer,
der seinen Gegner nicht niederschlagen kann, hat ihn natürlich nicht besiegt.“68
Hierher gehörten auch die „krampfhaften Bemühungen einiger ‚Kenner‘, aus
dem Sport eine Art ‚Kunst‘ zu machen. Diesen Kennern wächst jetzt schon wie-
der auf der bloßen Hand eine ganze Nomenklatur von Fachausdrücken, und die
Tendenz geht immer mehr aus l’art pour l’art.“69 – „Ich bin für den Sport, weil
und solange er riskant (ungesund), unkultiviert (also nicht gesellschaftsfähig)
und Selbstzweck ist“70, postuliert Brecht noch Ende der 1930er-Jahre im Essay
Die Krise des Sportes. „Boxen zu dem Zweck, den Stuhlgang zu heben, ist kein
Sport“71, hält Brecht auch in der Notiz Die Todfeinde des Sportes dagegen: „Der
große Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein.“72 Die
Kultivierung des Boxens durch jegliches Regelkorsett gelte es, verlangt Brecht,
aufzusprengen und zu beseitigen – und auf die Diskurs- und Praxisfelder des
Sozialen und Individuellen auszuweiten: Um seine Position gegen die „Art der
bürgerlichen Vereinnahmung des Sports“73 argumentativ zu stützen, greift der
Autor in einem seiner „Gegenessay[s]“74 deshalb auch auf ein Erfahrungsbild
zurück, das fest im Lebensalltag verankert ist. „Sehen Sie sich zwei Männer
65 Foucault 2001, S. 921
66 Brecht 1992f, S. 224
67 Ebd., S. 225
68 Ebd.
69 Ebd., S. 224f
70 Brecht 1992e, S. 224
71 Brecht 1992f, S. 224
72 Ebd., S. 223
73 Peschken-Eilsberger 1990, S. 106
74 Extra 2006, S. 194; zur Brecht-Thiess-Debatte vgl. Fleig 2008, S. 132f, und Peter Sloterdijks
Analyse von Thiess’ Artikel Das Gesicht des Jahrhunderts (Sloterdijk 1995, S. 313f) 247
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440