Seite - 255 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
Bild der Seite - 255 -
Text der Seite - 255 -
formanz“133, die von kompetitivem Wettstreit und auffallendem Abstand zum
Alltagsverhalten geprägt ist.134 Der Duelltanz zeichnet sich ferner dadurch aus,
dass den Akteuren im Ring eine beträchtliche Zahl von Zuschauern gegenüber-
steht: „So hat der Boxkampf etwas von einem Drama, an dem das Publikum
selbst teilnimmt, […] mittriumphiert oder mitverliert.“135 Indem Brecht Boxen
mit der Performativität des Theaters kurzschließt, schafft er einprägsame und
exemplarische Bilder von Körperlichkeit, die einerseits „unmittelbar im Feld des
Politischen“136 stehen; andererseits verweist er durch die Aufforderung des ge-
nauen Hinsehens mit Nachdruck auf die Durchformung und Materialität des
Körpers, die mit einer grundlegenden Ästhetik des Selbst in enger Verbindung
stehen: Der Boxer formt und diszipliniert seinen Körper – und zugleich seine
innere Konstitution. Die Performativität des Boxens veranschaulicht die Inkor-
porierung der Selbstsorge und des Selbsttechnologischen. Das dürfte einer der
konzeptionellen Gründe dafür sein, weshalb Brechts Erzählen über das Boxen
weitestgehend im Zeichen der Bühne steht.
In seiner Mischung aus Körperschulung, Leibesertüchtigung, zirkusmäßiger
Ästhetik und Artistik kommt Boxen auch immer einem Spiel von Exhibitionis-
mus und Voyeurismus gleich.137 Boxen als „type of dramatic performance, analogue
to extreme theatrical moments“138 hält die performativen Komponenten qua Ge-
schwindigkeit, Kraftpräsentation, Betätigungsdrang und Gewandtheit bereit. Der
Ring erscheint als ein der „Bühne vergleichbarer theatralischer Ort“139: Die Phä-
nomene von Schlachtenbummelei und Schaulust finden sich im Boxen mit sport-
lichen, schauspielerischen und sozialen Aspekten synthetisiert; Zuschauerbindung,
kraftsportliches Zusammenprallen und kollektives Zusammensein gehen Hand in
Hand und offenbaren „Strategien von Kräfteverhältnissen“140, die im erweiterten
Umfeld der boxsportlichen Praxis sichtbar werden. Brecht ist einer der ersten Auto-
ren in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, der den bühnenartigen Auf-
führungscharakter des Boxens erkennt und neu akzentuiert. „Das alte Theater“, stellt
Brecht 1926 in Mehr guten Sport fest, habe „kein Gesicht mehr.“141 „Es geht hier kein
Wind, in kein Segel.“142 Das Signal an die Zeitgenossen, vertraut mit marinetech-
133 Gumbrecht 2005, S. 55
134 Vgl. ebd.; Holtemayer 2005, S. 82 u. Görtz 1996, S. 347
135 Heckmann 1996, S. 124
136 Foucault 1977a, S. 37
137 Vgl. Baur 1976, S. 139; Becker 1993, S. 235; Kohr, Krauß 2000, S. 12; Korte 1993, S. 37–86
138 Hoberman 1984, S. 7
139 Junghanns 1998, S. 56
140 Foucault 1978, S. 123
141 Brecht 1992c, S. 120 (Hervorh. im Orig.)
142 Ebd., S. 121 255
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
|
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440