Seite - 263 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Rummelplatz steht deshalb auch Samson-Körner, der gleichsam autobiografi-
sche Protagonist in Der Lebenslauf des Boxers Samson-Körner erzählt von ihm
selber, aufgeschrieben von Bert Brecht, zum ersten Mal auf einem Boxpodium.200
Im Sinnenrausch mustert er die Umgebung:
Die Sache ging an einem Juniabend vor sich. Im Zelt war es sehr heiß, die Leute
saßen in Hemdsärmeln um den Ring und rauchten trotz des Verbots so sündhaft,
daß man im Ring, um was zu sehen, mit einem Drillbohrer den Rauch hätte durch-
bohren müssen. Ich erinnere mich, daß dann, während des Kampfes, langsam die
paar Ölfunzeln über uns zu schwelen anfingen. […] Außerdem hörte ich dumpf
das heisere Brüllen der 50 bis 70 Zuschauer, und all das in dem Höllenlärm von
einem Dutzend Drehorgeln umliegender Karusselle. Ich hatte von Anfang an eine
Vorahnung. Denn was nun kam, war kein Boxkampf, sondern ein Schlachtfest.201
In Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny duellieren sich indes Dreieinigkeits-
moses und Alaskawolf-Joe vor dem Schriftzug „Kämpfen“202 im Bühnenhinter-
grund (wie es die Regieanweisung in der von Brecht gemeinsam mit Kurt Weill
verfassten Oper fordert). Dabei lässt es Brecht jedoch nicht bewenden: „Aus
einer seitlichen Tribüne spielt eine Blasmusik“203 – so irritiert Brecht das Gloriose
des Boxens mit einer weiteren Spielvorgabe, und in Das wirkliche Leben des Jakob
Gehherda avanciert der Boxring mit duellrhetorischer Dramatisierung gleich zu
einer von biblischen Bezügen bestimmten Örtlichkeit: Gehherda erscheint in
seinem Traum gentlemanlike als der „Schwarze Ritter“; er fordert Maschner,
der, wie bereits dargestellt, das Abwaschmädchen Sylvia erniedrigt hat, zum
Kampf204: „Sie werden ganz anders reden, noch bevor der Hahn dieses Gast-
hauses schreit. Auf Wiedersehen 11 Uhr 45 in der grauen Schlucht!“205 Diese
stellt sich als eine von Geheimnis und Spannung umwitterte Örtlichkeit heraus,
deren Beschaffenheit zur Spektakelkultur des Boxens ebenso beiträgt wie die
Ko-Präsenz des Publikums und der stringente zeitliche Ablauf, das Zirkushafte
des Geschehens und die überspannte Körperlichkeit der Akteure.
Sieben Gräber, die gelegentlich als Sitze benutzt werden. Durch Stricke und Pflö-
cke ist ein Boxring geschaffen worden. Der zweite Gast hält einen Schimmel,
200 Vgl. Brecht 1997b, S. 222ff
201 Ebd., S. 224
202 Brecht 1988b, S. 366 (Hervorh. im Orig.)
203 Ebd. (Hervorh. im Orig.)
204 Vgl. Brecht 1997d, S. 733
205 Ebd., S. 734 263
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440