Seite - 269 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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sicher gemerkt, was ich mir heute denke: daß er mich nämlich durchaus nicht etwa
so schnell wie möglich totschlagen wollte, sondern eher so langsam wie möglich.
Er konnte sich nicht einfach seiner Mordlust hingeben, sondern er war verpflich-
tet, auf sein Publikum Rücksicht zu nehmen, das einen Kampf sehen wollte. Er gab
mir also immer genügend Zeit, wieder ein wenig auf die Beine zu kommen, worauf
er dann wieder seine Kunst zeigte.243
Brecht zieht die Möglichkeit der Wehrhaftigkeit des Individuums gegen die
„Übermächte der Gesellschaft“244 in Zweifel; Boxen dient dem Autor auch
hier als ein spezifisches Mittel zu Individualisierung und Individuation. Sam-
son-Körner klagt nach dem Kampf: „Nach diesen zwei Runden war ich lebens-
müde wie ein Hundertzwanzigjähriger, lag auf meinem Rücken in einer Ecke und
wünschte den Tod herbei.“245
Bagatellisierung des Lebenskampfs
Boxen als Bildspender für Gegenkultur und Antibürgerlichkeit, der Sportler als
Personifizierung von Halbwelt und dunklem Schicksal – das markiert allen-
falls den Beginn von Brechts Beschäftigung mit Boxen als „direkte[m] Zwei-
kampf“246; die „uneingeschränkte Anerkennung“247 des Autors findet die der-
art definierte Art des Boxens, wie auch oben dargestellt, nur für kurze Zeit.
Zählt Brecht die „sportlich gewitzte Verwendung der Körperkraft“248 in der
Frühzeit der Weimarer Republik noch zu den Möglichkeiten, sich im „Groß-
stadtdschungel zu behaupten wie auch gegen Fremdbestimmung und blinden
Schicksalsgehorsam zu revoltieren“249, erteilt er der Definition der Schwerath-
letik als Lebenskampf bald eine Absage; der körperliche Kampf wird in den
späteren Schriften Brechts nicht mehr als ein exklusives Phänomen bestaunt.
Über jenen Automatismus, wonach Boxen mit der Machbarkeit von Lebens-
glück korreliere, runzelt der Autor, die boxsportlich ungetrübte Hochstimmung
seiner Zeitgenossen relativierend, deshalb auch die Stirn: Boxen erscheint bei
Brecht als eine von Zufall und Unplanbarkeit perforierte Tätigkeit, als ein auf
beträchtliches Abstraktionsniveau eingedämpftes Tun: Der Wettkampf ver-
243 Ebd., S. 224 (Hervorh. im Orig.)
244 Simmel 2006, S. 7
245 Brecht 1997b, S. 224 (Hervorh. im Orig.)
246 Berg 1995, S. 134
247 Witt 1996, S. 216
248 Müller 2004, S. 69
249 Ebd. 269
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440