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um „wenigstens von der See erzählen zu hören“312, und nach dem Scheitern
seiner „erste[n] Liebe“313 begibt er sich auf Wanderschaft. Im Lebenslauf suche
Brecht, so Jan Knopf im Brecht-Handbuch, „den realistischen Ausdruck, der
die ‚Authentizität‘ nicht auf sturen Naturalismus (bloße Wiedergabe)“314 be-
schränke.
Der zeitadäquat-neusachlichen Vorstellung, die den „Menschen als Bewe-
gungsmaschine, seine Gefühle als motorische Gebaren und die Charaktere als
Masken“315 wahrnimmt, folgt Brecht hingegen nur in kalkulierten Ausnahme-
fällen. Im Gedicht Gedenktafel für 12 Weltmeister, das die Namen der Boxwelt-
meister im Mittelgewicht von 1891 bis 1927 versammelt, verzichtet der Autor
nicht nur wegen seiner „Abneigung gegen die übliche Innerlichkeitskultur, die
Lyrik als ‚Ausdruck‘“316 begreift, auf jede Form introspektiver Psychologie. Die
Dichtung, deren „am poetischsten empfundene Zeilen fast wörtlich übernom-
mene Formulierungen“317 aus einem Boxsportfachblatt sind, kapriziert sich na-
hezu vollständig auf die kühle Präsentation der Leistungs- und Technikfertig-
keiten durchtrainierter Sportler.
Bob Fitzsimmons / Jack O’Brien / Stanley Ketchel / Billie Papke / Frank Klaus
/ George Chip / Al Maccoy / Mike O’Dowd / Johnny Wilson / Harry Grebb /
Tiger Flowers / Mickey Walker – / Dies sind die Namen von zwölf Männern / Die
auf ihrem Gebiet die besten ihrer Zeit waren / Festgestellt durch harten Kampf /
Unter Beobachtung der Spielregeln / Vor den Augen der Welt.318
Was vordergründig als nachdrückliches Lob des Boxens erscheint – und deshalb
von Hanns-Marcus Müller zu einem „pedantisch-ostinate[n] Gedicht“319 abge-
wertet wird –, entpuppt sich bei gründlicherer Analyse als kritische Fortschrei-
bung einer Art „heilsgeschichtlich begründete[r] Genealogie“320, die das „histo-
rische Geschehen auf die kontinuierliche Überbietung von Bestleistungen“321
herabsetzt: „Brechts Gedenktafel reduziert die Geschichte zur seriellen Abfolge
312 Ebd., S. 218
313 Ebd., S. 221 (Hervorh. im Orig.)
314 Knopf 1996b, S. 248
315 Lethen 1994, S. 10
316 Knopf 1996b, S. 67
317 Witt 1996, S. 213
318 Brecht 1993e, S. 382
319 Müller 2004, S. 174
320 Becker 1993, S. 244
321 Ebd.
278 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440