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delt341, finden sich die Ebenen des Psychischen und des Physiologischen be-
reits vage verschränkt. „Alsbald verließ auch sein Aug arglistig die heimische /
Höhlung / Fließend wie Öl in den Mund, der andere Speise gewöhnt war“342,
mischt hier Brecht die Bereiche Ringbrutalität, Affektrausch, Sinneseindruck
und Emotionalität: „Alsbald wurde zu Gummi sein Knie und der Boden wurd
/ seine Sehnsucht“343. Der Boxer im Poem verliert die Freude am Funktionie-
ren. Das sportliche Duellieren gerät ihm aus dem Blick, der Athlet findet sich
in einen Zustand der Reizüberflutung versetzt, der ihm böse Streiche spielt:
„Und er wünschte sich sehnlich ein tiefes Vergessen“344; die Überbeanspru-
chung der Sinne führt zu Kollaps und Knock-down, Konfusion und bizarrem
kompetitivem Verhalten: „Ölend dem Gegner die Wunden, sammelnd sie alle
mit Sorge / Für spätere Zeiten des müßigen Nachdenkens“345. Brecht deutet
bereits 1926 mögliche Konvergenzen von Psychischem und Physiologischem
an, zu einer Zeit, als die massenhaft rezipierte Trivial- und Unterhaltungsli-
teratur die Figur des Boxers synchron als stumpfe Körper-Muskel-Maschine
feierte, fern jedweder psychophysischer Zusammenhänge. Dem Zusammen-
spiel von Körperpanzer und Gedankenfluss, beispielhaft in der Figur des Bo-
xers verkörpert, wird sich aber erst Robert Musil intensiver widmen. Als Ver-
treter eines abseits neusachlicher Verhaltenslehren positionierten Figurentyps –
„[n]icht Introspektion, Bewegung ist die Parole“346, markiert Helmut Lethen
das Zentrum neusachlicher Literatur – erscheint auch Freddy Meinke; vermit-
tels Brechts „psychologische[m] Funktionalismus“347 ist er ein rätselhaft zusam-
mengesetzter Typus, dessen Handeln und Charakter weitestgehend von un-
durchsichtigen Prozessen psychischer Disposition motiviert scheint. Er trainiert
nach Zuerkennung des Meisterschaft-Fights mit „Wucht“348 und Präzision:
„Freddy war am 10. fertig mit dem Training, und am 12. abends 7 Uhr saßen wir
in diesem Lokal.“349 Gegen die Transzendierung des Boxens ins Monumentale
setzt Brecht das Gespräch von Angetrunkenen in einer Kaschemme. Meinkes
mustergültiges boxerisches Verhalten hinterlässt keinen Eindruck mehr. Wich-
tiger sei, so die einhellige Meinung der Tischrunde, dass Freddy „überhaupt
341 Brecht 1993d, S. 529
342 Ebd., S. 347
343 Ebd.
344 Ebd.
345 Ebd.
346 Lethen 1994, S. 51
347 Sloterdijk 1983, S. 789
348 Brecht 1997a, S. 207
349 Ebd. 281
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440