Seite - 283 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Urteilskraft treten Schimpftiraden unter Alkoholeinfluss: Das dargebotene Bier,
so der Erzähler, sei ein „lauwarmes, ,ekelerregendes Gesöff“359, in dem „ein soli-
der kleiner Typhus“ 360 stecke. Meinke reagiert entgeistert:
Es war ihm ganz unerträglich, daß er hier sitzen sollte und nichts trinken durfte,
weil irgend etwas davon abhing, daß er nicht schlapp machte, und daß er doch Lust
hatte, diese Typhuslake in sich hineinzubekommen, und zu schwach war, es ein-
fach zu tun, wonach ihn unvernünftigerweise gelüstete, und daß er sich vor allem
ärgerte, daß er diese Unvernunft hatte.361
Brecht konterkariert hier neusachliches Zweckmäßigkeitsdenken: Eindrücke,
Affekte und Gefühle schlagen sich bei Freddy körperlich nieder. Brecht pocht
nicht länger auf den Gegensatz von Körper, Geist und Seele. Er lässt in das
Bild des Boxers, dessen Körper weithin als eine mit Muskelmasse vermauerte
Festung imaginiert wird, erste Spuren nachvollziehbarer Psychologie einsickern.
Die Gründe für Meinkes sportlichen Misserfolg werden als Folge von Freddys
innerer Verfasstheit interpretiert, die mit sich selbst nicht ins Reine kommt:
„Als wir das Lokal verließen, wußte ich, daß Freddy eine schlechte Meinung
von sich bekommen hatte.“362 Die „lehrreiche Geschichte“363 vom Untergang
des Boxers Meinke, die Brecht im Kinnhaken zu entwerfen vorgibt, erweist sich
bei genauer Betrachtung auch keineswegs als eine auf didaktische Unterweisung
zielende Verhaltensanweisung, eher als der Versuch, die Existenz des moder-
nen Menschen an die Widersprüche und Ambivalenzen der Epoche anzupas-
sen. Der Kinnhaken wird dennoch gern als ein gleichnishaft belehrender Text
mit „Rezept am Schluss“364 erörtert365; jener Abschnitt der Erzählung, in dem
Meinke vor dem entscheidenden Kampfabend die Trinkhalle beim Sportpa-
last366 aufsucht, erscheint als zentrales Scharnier für die nachfolgenden Ereig-
nisse interpretiert. Seine Weigerung, sich dem Boxsportduell nach athletischer
359 Vgl. ebd., S. 208
360 Vgl. ebd.
361 Ebd.
362 Ebd.
363 Brecht 1997a, S. 205
364 Müller 1980, S. 75
365 Vgl. Leis 2000, S. 118: „Die Parabel endet ihren Gattungsgesetzen entsprechend mit einem
Lehrsatz“; vgl. Bathrick 1990, S. 133: „Brecht’s reversal of the well-known German saying ‚cau-
tion is the mother of the china cabinet‘ inverts the ideology of normative caution in the name of
a simple acquiescence to need and instinct.“
366 Klaus-Detlef Müller verortet den Treffpunkt Potsdamer/Ecke Bülowstraße, vgl. Müller 1980,
S. 74 283
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440