Seite - 287 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Boxen als Abzahlung: Der Kinnhaken
Brecht macht auch deshalb auf den Warencharakter des Boxens aufmerksam.
Freddy Meinke erwirbt ein Motorrad auf „Abzahlung“388, und er staffiert seinen
Alltag mit den emblematischen Kennzeichen des wohlhabenden Bürgers aus:
Aber wenn er sich auch noch eine Braut zulegte mit solider Verlobung und einem
regelrechten Hausstand am Horizont, womöglich noch mit Nußbaumbetten und
Bücherschrank, eine ganz dicke Sache, dann war das zweifellos zu weit gegangen.
So einer, der in ein solches Riesenunternehmen wie ein Verlobung hineinstiefelt in
einem Moment, wo seine Existenz doch einfach an einem Faden hängt, bringt es
dann glücklich zustande, daß eine Unmasse und womöglich sein ganzes Lebens-
glück von irgend etwas abhängt, was doch immerhin noch erst kommen muß.389
Die Diskurse Sport und Ökonomie erscheinen verklammert, der Zwiespalt zwi-
schen bürgerlicher Wirklichkeit und sportiver Existenz aufgehoben: „Freddys
Niedergang beginnt in dem Moment, wo er sich nicht mehr auf den Kampf
konzentriert, sondern sich eine bürgerliche Existenz zuzulegen sucht.“390 Sein
Motorrad ist auf Kredit gekauft391; die Ehe stellt ein „Riesenunternehmen“392
dar, und die Karriere, deren „Existenz […] an einem Faden hängt“393, wird von
einer als diffus-bedrohlich empfundenen „Unmasse“394 infrage gestellt; Freddys
Lebensglück hängt „von irgend etwas [ab], was doch immerhin noch erst kom-
men muß“395, räsoniert der Erzähler: Das entfesselte Geld und das Gesetz der
großen Zahl, die im Boxen gravierend wirksam sind, suspendieren die Wirkkraft
stringenter Argumentation. Der Erzähler fährt fort:
So einer darf dann eben einfach nicht mehr verlieren. Aber ich sage Ihnen, Herr,
wenn von etwas zuviel abhängt, dann ist die Sache schon faul. In einen Meister-
schaftskampf sollte einer hineingehen wie ein Verkäufer in seinen Laden. Verkauft
er was, gut. Verkauft er nichts, gibt es noch einen Ladenbesitzer für die schlaflosen
Nächte.396
388 Brecht 1997a, S. 207
389 Ebd., S. 207
390 Knopf 1996b, S. 247
391 Vgl. Brecht 1997a, S. 207
392 Ebd.
393 Vgl. ebd.
394 Vgl. ebd.
395 Vgl. ebd.
396 Ebd., S. 206 287
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440