Seite - 289 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Rummelplatzarbeiter in Hamburg; Fischer in Kapstadt.404 Zur Sportgeschichte
zieht Brecht neben Wirtschaftshistorie auch ein hohes Maß an Sozialgeschichte
hinzu. Mit 14 Jahren macht sich Samson-Körner auf den Weg nach England;
zuerst „tippelt“405 er nach Hamburg und übernachtet dort in Herbergen; da er
ohne Papiere unterwegs ist – und die „Polizei ihre Blicke“406 bereits auf ihn rich-
tet –, macht er sich auf den Weg nach Bremerhaven, mit dem Ziel, als Hilfskraft
auf ein Schiff zu gelangen.407 Der Lebenslauf wird um soziale Perspektiven erwei-
tert: Rastlosigkeit, Zerstreuungsverlangen. Der spätere Boxmeister beklagt sich:
Und ich hatte unmenschlich viel Zeit. Ich war groß und stark wie mindestens ein
Zwanzigjähriger und so frech, wie man nur sein konnte. Aber ich konnte nicht auf
diese verfluchten Schiffe kommen, und mein Geld schwand wieder wie die Butter
in der Sonne, das heißt, es war nur mehr ein Fettfleck in der Sonne.408
Samson-Körners Lebens- und Reisewege werden von Brecht fortgesetzt über-
einander und ineinander geführt. Der angehende Athlet hält sich in Antwerpen,
Alexandrien, Konstantinopel, Bristol, Barrydock, London, Hamburg, Westin-
dien, New Orleans, New York, Charleston und wiederholt in der walisischen
Küstenstadt Cardiff auf, die so etwas wie den Ausgangspunkt vieler Unterneh-
mungen Samson-Körners bildet409: „Hätte man uns an irgendeinem Ort der
Welt in dieser Zeit ausgesetzt, wären wir sicher wieder nach Cardiff ins See-
mannsheim gegangen. So faul ist der Mensch.“410 So „um das Jahr 1907“411 – die
einzige Datumsangabe im Fragment – fährt Samson-Körner „zwischendurch ein-
mal nach Afrika“412. Die Lebensstationen des starken Mannes präsentiert Brecht
als einen von Geldnot und sozialer Unsicherheit geprägten Weg, welcher den
Boxer unter anderem ins Gefängnis und in ein Seemannsheim führt413 ; die
durchaus vorhandene Gelegenheit, die Exotik und Exklusivität der von Sam-
son-Körner bereisten Destinationen auf die Figur des Boxers, der auf seinen
Reisen regelmäßig seekrank wird414, abfärben zu lassen, lässt Brecht ungenutzt
404 Vgl. ebd., S. 216–234
405 Ebd., S. 217
406 Ebd.
407 Vgl. ebd., S. 217f
408 Ebd., S. 218
409 Vgl. ebd., S. 218–234
410 Ebd., S. 221
411 Ebd., S. 234
412 Ebd. (Hervorh. im Orig.)
413 Ebd., S. 221
414 Vgl. ebd., S. 218f 289
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440