Seite - 299 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Geld, Geschäft, Gesellschaft, Gefecht und „Gemacht-Werden“490 scheinen in
der Figur des Boxers verschmolzen. Im Entwurf A1 schreibt Brecht:
Bei diesem Boxerroman ist das Boxen nicht die Hauptsache, obwohl auch daraus,
alle verstreuten Stellen zusammengenommen, einige spannende Druckseiten he-
rausgeholt werden. Aber interessanter ist es schon zu sehen, wie ein Mann durch
Boxen Geld und Ruhm verdient und wie er es anfängt, daß er dann den Ruhm
noch einmal zu Geld macht, kurz:
wie ein Mann „sich macht“. Interessant, wie alle
möglichen Leute bestrebt sind, einen Helden zu bekommen, das heißt, einen guten
Mann immer noch besser haben zu wollen, als er ist, und ihn mit sanftem Zwang
kleiner Zeitungsnotizen und wohlgemeinten beiläufigen Erkundigungen bei Zi-
garren und Cocktails nach dem Stand seines Muts und, wenn es sein muß, mit
einem höllischen Privatleben-, Gesellschaft- und Presseklamauk in einen Weltre-
kord hineinhetzen, kurz: wie ein Mann „gemacht wird“.491
Brecht nähert sich im Kinnhaken, Renommee und im Lebenslauf dem Boxen als
einem kulturellen Schlüsselphänomen, durchbuchstabiert in Diskursen, Prakti-
ken, Geschäftsmodellen, wechselnden Topografien, sportlichen und alltagsna-
hen Anschauungen, bewussten und unbewusst gesteuerten Verhaltensweisen.
„Die Technik des Romans“, schreibt Brecht in Das Renommee, sei so gedacht:
„Verflechtung sehr vieler, möglichst scharfer Detailszenen, ähnlich wie im
Film.“492 In der Textschicht A1 präzisiert Brecht:
Ganz im allgemeinen: der ganze dornenreiche und verlockende Weg eines Man-
nes, der außer allen Gesellschaftsklassen steht, aus einer Marseiller Hafenkneipe
heraus, durch die Pariser Salons, in eine internationale tobende Kampfarena auf
Kuba, der Weg von dieses Mannes Begabung für primitive Keilerei zu raffinierter
Boxkunst, von natürlichem Instinkt für Sichdurchsetzen zu mit allen Wassern ge-
waschener Praxis in Geschäfts- und Reklametricks.493
Sozialökonomische Aspekte avancieren zum konstitutiven Bestandteil des mo-
dernen Lebens. Die Wirkkraft herkömmlicher existenzieller Bewältigungsstra-
tegien schwindet: Die sportlichen Benimmregeln drohen außerhalb des Rings
alarmierend zu versagen. Das müssen sowohl George Carrare in Das Renommee
als auch Freddy Meinke in Der Kinnhaken einsehen. Meinkes temporärer sport-
490 Berg et al. 1981, S. 225
491 Brecht 1989a, S. 423
492 Ebd., S. 427
493 Ebd., S. 423 299
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440