Seite - 302 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Familie bei, die aus den Savannen in das Dickicht der großen Stadt gekommen
ist. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Motive dieses Kampfes, sondern
beteiligen Sie sich an den menschlichen Einsätzen, beurteilen Sie unparteiisch die
Kampfform der Gegner und lenken Sie Ihr Interesse auf das Finish.512
Dass Boxen aber durchaus Wirkung zeigen soll, bestimmt Brecht mit aller
Vehemenz nur wenige Jahre später in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny.
„Drittens das Boxen nicht vergessen“513, fordert er in dem Stück, in dem im 15.
Bild der Boxkampf zwischen Dreieinigkeitsmoses und Alaskawolf-Joe „nur mit
dem K. o.“514 enden darf. Besorgt meldet sich darauf Willy, der Prokurist, zu
Wort: „Junge! Da reist du besser noch fort! / Denn das ist beim Teufel kein blo-
ßes / Preisboxen, sondern glatter Mord!“515 Der Holzfäller Paul dagegen wettet
auf seinen Kollegen Alaskawolf: „Joe, ich habe dich immer geschätzt / Von der
Wiege bis zum Grabe / Drum wird heute auf dich gesetzt / Und zwar alles, was
ich habe.“516 Der Kampf beginnt, das Geschehen im Ring überträgt sich auf das
Publikum:
Los jetzt! Schiebung! / Quatsch! Er nimmt schon! / Vorsicht! Nicht stürzen! Tief-
schlag! Nicht halten! / Der sitzt! Macht nichts! Lippe gespalten! / Ran, Joe! Kunst-
stück! Ja, er schwimmt schon! […] Moses, mach Hackfleisch! / Mach aus ihm
Haschee! / Moses, gib ihm Saures! / Tu ihm etwas weh!517
Der Schiedsrichter stellt fest: „Der Mann ist tot.“518 Das Unvermögen zur Em-
pathie bricht hervor. „Großes, anhaltendes Gelächter. Die Menge verläuft sich. […]
K. o. ist k. o. Er vertrug nichts Saures.“519 Nur Dreieinigkeitsmoses findet ein
Wort des Mitleids: „Ich bedaur es.“520 Brecht funktioniert die Bühne zu einer
512 Brecht 1989b, S. 438; vgl. Peschken-Eilsberger 1990, S. 106: „Man soll sich nicht mit der Hand-
lung oder einer Person auf der Bühne identifizieren; bekanntlich eine der Hauptmaximen der
Brechtschen Theatertheorie.“ Ob es sich bei den Vorkommnissen auf der Bühne von Im Dickicht
der Städte tatsächlich, wie Frank Becker mutmaßt, um „sinnlosen Aktivismus“ (Becker 1993, S.
239) handelt, mag dahingestellt bleiben
513 Brecht 1988b, S. 368
514 Ebd., S. 366; Trivia: Bei der Berliner Aufführung von Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
war 1931 Max Schmeling als Darsteller für die Boxkampfszene vorgesehen; ein, wie sich bald
herausstellen sollte, Reklametrick des Theaterbesitzers, vgl. Berg 1993, S. 15
515 Brecht 1988b, S. 366
516 Ebd., S. 367
517 Ebd., S. 368
518 Ebd.
519 Ebd. (Hervorh. im Orig.)
520 Ebd.
302 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440