Seite - 306 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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nen und die Faust wie von einem Engel mit rasender Gewißheit auf klarer Bahn
geführt wird; und im Augenblick eines moralischen Entschlusses liegen alle Zu-
kunftsrealitäten klein und wie unter Siebenmeilenstiefeln.6
Der analytische Anspruch Musils wird dem literarisierten Boxen neue Artiku-
lationsräume erschließen: Boxen formiert sich zum Reflexionsschwerpunkt. Der
Autor mustert das Boxen nicht einfach als schillernden Komplex aus Schlag-
worten, idealtypischen Sportlerkonzeptionen und als eine Projektionsfläche für
Identitätskonstruktionen und Alltagsideologien, sondern als komplexes kul-
turelles System. „Es wäre wichtig, zu wissen, warum man sich bei einer roten
Nase ganz ungenau damit begnügt, sie sei rot, und nie danach fragt, welches
besondere Rot sie habe“7, schreibt Musil im Mann ohne Eigenschaften. Auch das
Boxen lässt sich in die Nähe von etwas „viel Verwickelterem“8 rücken. Musil re-
gistriert die Siglen der Moderne – Tempo, „die neuen Geschwindigkeiten“9, die
spürbare „Hexerei“10 des modernen Lebens; Dynamik, Betriebsamkeit – keines-
wegs affirmativ gebannt, eher mit dem zweifelnden Lächeln des Zeichendeuters.
„Das Leben wird desto unpathetischer und sachlicher, je gigantischer es wird“11,
plädiert der Autor 1927 im Essay Geschwindigkeit ist eine Hexerei für die Entlar-
vung und Entzauberung der Emphase für Kampf und Körperkraft:
Ein Boxkampf zwischen zwei Meistern enthält weit weniger Alarm als eine Stra-
ßenprügelei zwischen zwei Laien, und ein Gaskampf ist lange nicht so dramatisch
wie eine Messerstecherei. Die großen neuen Intensitäten haben vollends für das
Gefühl etwas Unfaßbares, wie Strahlen, für die noch kein Auge da ist.12
Sport treibt vielmehr als eine „blinde Kraft“13 und als „irgendein Nichtwider-
stehenkönnen“14 den Athleten; im Boxen werden Eigenschaften und Merkmale
ausgemacht, die dieser Sportart auf den ersten Blick nicht immanent scheinen:
Nur bei Musil ist im Sport im Allgemeinen und im Boxen im Besonderen, wie
der Autor in Als Papa Tennis lernte darlegt, die gesteigerte Form sportiver Kör-
6 Musil 2009, Lesetexte, Band 14, Gedichte Aphorismen Selbstkommentare, Selbstkommentare
aus dem Nachlass
7 Musil 1989a, S. 9
8 Ebd.
9 Musil 1978i, S. 684
10 Ebd., S. 683
11 Musil 1978i, S. 685
12 Ebd.
13 Musil 1978h, S. 689
14 Ebd.
306 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440