Seite - 311 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Man läuft, man schlägt Ball, man spielt Faustball, zwei Paare fechten sogar, mit
Turnerapplomb. Es ist wie wenn man Stadthunde ins Freie hinausläßt, ein ausbre-
chender sinnloser Bewegungsdrang; ganz blödsinnig glücklich, was sie treiben.50
In steinerner Ruhe beobachtet Musil das Sportgeschehen, ohne Verlangen nach
Partizipation, allein von Affekten und Emotionen gelenkt. Von keinem Mus-
kelzucken ist hier die Rede. „Es sind nicht die tiefen sinnvollen Dinge, die das
Leben hübsch machen, sondern die sinnlosen“51, macht Musil in dem Diarium
den Umschlagpunkt des Denkens aus, als er die Beobachtung einer Schlagbewe-
gung bei einem Boxtraining notiert. „Aus keinem Geist wäre diese schöne Be-
wegung zu ersinnen gewesen, sie ist erst durch das alberne Drum und Dran des
Sports entstanden.“52 Dem Drum und Dran des Sports widmet sich Musil aus
der Distanz; dem Jahrhundertsportgeist gewinnt er wenig ab; der Überbetonung
des Körperlichen steht er distanziert gegenüber. Dem zeitgenössischen Box-
geschehen nähert sich Musil nicht aus dem Blickwinkel des Fans, jener Form
der Anhängerschaft, die er im Mann ohne Eigenschaften lustvoll zur Karikatur
verzerrt.53 Die Boxsportblüte der 1920er-Jahre und die damit im Umlauf be-
findlichen Geldsummen und symbolischen Körper- und Kampf-Kapitalwerte
reizen Musil im Tagebuch zu Kritik und Kopfschütteln54: „Dem Boxer Roth
wird zugesichert, falls er in Wien die Weltmeisterschaft im Halbschwergewicht
geg[en] Lazek abnimmt: die Ehrenbürgerschaft von Antwerpen, ein Automobil,
ein Gartengrund (er ist Gärtner) mit Steuerfreiheit.“55 In Heft 30 der Tagebücher
protokolliert Musil, vermutlich in Bezug auf Hitlers bereits um 1936 absehbaren
50 Musil 1976a, S, 297
51 Ebd., S. 732
52 Ebd.
53 Die Wendung von dem „geniale[n] Rennpferd“ ist Form gewordenes Fantum, vgl. Musil 1989a,
S. 44; vgl. dazu auch Bourdieu 1986, S. 103 (Hervorh. im Orig.): „Tatsächlich ist der sprich-
wörtliche Mann von der Straße nicht nur im Bereich des Sports auf die Rolle eines fans, jenes
zur Karikatur geronnenen Grenzfalls des Militanten, zusammengeschrumpft und zu einer rein
imaginären Partizipation verurteilt, die weiter nichts denn Scheinersatz für die Preisgabe eigener
Fähigkeiten zugunsten der Experten ist.“
54 Vgl. Musil 1976a, S. 683; 781, 840; Hanns-Marcus Müller interpretiert eine Notiz Musils aus
der Nachlassmappe IV/3/330: „[Musil] […] fühlte sich vom Erfolg eines Stefan Zweig oder
Franz Werfel weit nachhaltiger gekränkt als durch die ‚Meister der Kölner Schule‘ [das heißt
Boxschule].“ (Müller 2004, S. 209)
55 Musil 1976a, S. 868; der Belgier Gustave Roth (1909–1982) triumphiert im September 1936 in
Wien über den österreichischen Meister Heinz Lazek (1911–1986), vgl. Musil 1976b, S. 622,
650; Anfang März 1930 notiert Musil im Tagebuch: „Tagebuch eines Meisters. […] Etwas
weniger Pompöses als Boxen nehmen.“ (Musil 1976a, S. 837) 311
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440