Seite - 316 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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beneinander und Ineinander verschiedener Erfahrungsmöglichkeiten: „Warum
bringt man den Sport nicht in Zusammenhang mit den mystischen Bedürfnissen
des modernen Menschen, die andere sind als zur Zeit der Scholastik?“93, fragt
Musil in der 1925 entstandenen Studie Durch die Brille des Sports; Sport sei, wie
später genauer herauszuarbeiten sein wird, „nichts anderes als ein Durchbruch
durch die bewußte Person, eine Entrückung“94. Musil, der die „ewigen mysti-
schen Bedürfnisse […] kühn in das Erlebnis des Sports projiziert“95, ist, wie der
Autor im Tagebuch selbst darlegt, an nichts weniger als an der „Sprengung oder
Auflösung der intellektualisierten, voluntarisierten Normalbeziehung zwischen
Ich und (physischer, sozialer) Welt“96 interessiert: „Die Persönlichkeit“, proto-
kolliert er in einer Randnotiz im Diarium, löse „sich in das Tun ihrer Muskeln
auf“97. Nach den „Formen der Gegenwart“98 des Sports wird Musil noch Jahre
später forschen. Boxen und seine zumeist zwingenden Schemata von Klimax und
Knock-out gestaltet er zum dreidimensionalen Erlebnisraum dispositiver Wirk-
mechanismen um: „Auf allen anderen Gebieten gibt es nämlich schon von alters-
her ein dichtes Netz von Kreuz- und Querbeziehungen“99, schreibt Musil bereits
Mitte der 1920er-Jahre in Durch die Brille des Sports; vom Menschen selbst, er-
gänzt er später in den fragmentarischen Notizen zum Mann ohne Eigenschaften,
ginge ein „Netz von Kreuz- und Querlinien“100 aus; man könne
weder auf die Straße treten, noch ein Glas Wasser trinken oder die Elektrische
besteigen, ohne die ausgewogenen Hebel eines riesigen Apparats von Gesetzen
und Beziehungen zu berühren, sie in Bewegung zu setzen oder sich von ihnen in
der Ruhe seines Daseins erhalten zu lassen; man kennt die wenigsten von ihnen,
die tief ins Innere greifen, während sie auf der anderen Seite sich in ein Netzwerk
verlieren, dessen ganze Zusammensetzung überhaupt noch kein Mensch entwirrt
hat; man leugnet sie deshalb, so wie der Staatsbürger die Luft leugnet und von ihr
behauptet, daß sie die Leere sei, aber scheinbar liegt gerade darin, daß alles Ge-
leugnete, alles Farb-, Geruch-, Geschmack-, Gewicht- und Sittenlose wie Wasser,
Luft, Raum, Geld und Dahingehn der Zeit in Wahrheit das Wichtigste ist, eine
gewisse Geisterhaftigkeit des Lebens.101
93 Musil 1978e, S. 793
94 Ebd.
95 Bernett 1960, S. 155
96 Musil 1976a, S. 659f
97 Ebd., S. 659
98 Musil 1978h, S. 687
99 Musil 1978e, S. 792
100 Musil 1989b, S. 1712
101 Musil 1989a, S. 156f
316 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440