Seite - 323 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Der Schriftsteller entwickelt seine Erzählperspektive aus der Erinnerung he-
raus, aus dem Blickwinkel der „Urgenies“153 des Sports, um auf diese Weise das
zeitgenössische Diskursgewebe von Bedeutungen, Einsichten und Betrachtun-
gen, das sich um das Bildfeld wuchernd entfaltet, in so polemischer wie paro-
distischer Tonart kenntlich zu machen; die „heutige Art zu leben und auszuse-
hen“154 bildete sich laut Musil ohnehin im Kaiserreich Franz Josephs heraus. In
den 1920er- und 1930er-Jahren, kommentiert Musil in Als Papa Tennis lernte,
seien „wir uns selbst übergeben“155: Der „empfängliche Blick für Kleidung“156
signalisiert das vordergründig Sensationelle des Sports. Begibt man sich, von
modernen Sportstätten kommend, auf traditionellen Tennisgrund, demonstriert
Musil die Wahrnehmung des Modernen mit vormodernen Mitteln auch in Als
Papa Tennis lernte, sei dies, in ironisierter Hell-Dunkel-Dramatik, gerade so,
als ob man von einem „hellen, offenen Platz in einen hochstämmigen Wald
träte“157. Musil wendet sein retrospektiv ausgerichtetes Demonstrationsschema
zudem auf den Zeittypus des Sportmädchens an, das sich in der zeitgenössi-
schen Publizistik häufig als „gesundes, lebensfrohes, knackiges Menschen-
kind“158 beschrieben wiederfindet. In Randglossen zu Tennisplätzen wählt Musil
in diesem Zusammenhang folgenden erzählerischen Ausgangspunkt: „Damals
galt es für etwas sehr Gewagtes, daß die jungen Mädchen stundenlang allein
mit den jungen Männern spielten.“159 Der Autor stellt darauf über Zeitebenen
hinweg Berührungspunkte zwischen Körperkultur, Mode und Modernität her,
die das Diskursfeld Sport als klischiertes Konzept entlarven, das im Gewande
des Sportmoden-Imperativs absolute Neuheitsansprüche stellt – und, wie eben
in Randglossen zu Tennisplätzen, im Grunde traditionelle Entwürfe durchspielt:
Ich bin dieser Tage nach langer – freilich nicht so langer Zeit zum erstenmal wie-
der auf einen Tennisplatz gegangen. Irgend etwas beunruhigte mich; ich kam gar
nicht gleich darauf; endlich begriff ich, daß ich lange keine so angezogenen Damen
gesehen hatte. Als ob ich in die Zeitmaschine geraten und um Jahre zurückgedreht
worden wäre.160
153 Musil 1978h, S. 686
154 Ebd., S. 688
155 Ebd.
156 Ebd., S. 686
157 Ebd.
158 Dierker et al. 1986, S. 174
159 Musil 1978f, S. 795
160 Ebd. 323
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440