Seite - 326 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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sigkeit des Sports als Körper- und Kampfshow beschäftigt ihn allein in Form
ironischer Durchkreuzung der übersteigerten Publikumserwartungen. Der ana-
lytische Schluss, Musil habe seinen Protagonisten nachgerade eine „komplette
Boxtheologie mit auf den Weg“179 gegeben, scheint dennoch überdeterminiert,
insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Abneigung des Autors gegen die
quasi religiöse Funktion des Sports: Die Mutproben von Jugendlichen werden
von Musil bereits in Die Amsel im Modus entlarvender Übertreibung als „Her-
ausforderungen Gottes“180 dargestellt. Im Mann ohne Eigenschaften entfernt sich
die Theologie-Tangente desgleichen vom Faustkampf-Themenkern181: Boxen,
behauptet Ulrich, nachdem er sich „in Eifer“182 geredet hat, sei eine „Art von
Theologie“183; von der neuen Großreligion, die auf dem Glaubensbekenntnis des
sportiven Gegeneinanders gründet, könne man aber noch nicht verlangen, dass
sie „schon allgemein eingesehen werde“184. Boxen als eine dem „aufgeklärten
Zeitalter gemäße Form der Unio mystica“185 führt Musil qua diskursiver Zer-
splitterung ad absurdum; in die pseudoreligiöse Konnotation des Faustkämpfens
als einem freiwillig verordneten Kollektivismus lässt der Autor das innengelei-
tete Subjekt als gezielte Subversion einbrechen. Musil konfrontiert die gängigen
Beschreibungskonventionen des Boxens mit der punktgenauen Verwendung
ironischer Motive und satirischer Tonlagen. Bei näherer Betrachtung erweist
sich die von Ulrich begründete Boxtheologie im Mann ohne Eigenschaften näm-
lich als ein Mosaik fahler Farben, als „zeitgenössischer Ersatz ewiger Bedürf-
nisse“186, verwandt mit „verlorengegangenen Erlebnissen“187. Die Boxreligion
konterkariert Musil mit dem Unerforschlichen, dem Raunenden jeder Religion.
Musil literarisiert zudem den „Schein-Sport der Medien“188 und den sprung-
haften Anstieg der Beliebtheit des Boxens in Zeitungen und Zeitschriften mit
„Millionen Zeitungslesern, die seit einigen Jahren in allen Zungen des babyloni-
schen Sportturms reden lernen“189; der Zeitgenosse lese, bemerkt Musil in Durch
die Brille des Sports, ohnedies „viel mehr vom Sport […] als von der Theologie“190,
179 Kohtes 1999, S. 64
180 Musil 1978d, S. 548
181 In einem frühen Entwurf zum Mann ohne Eigenschaften findet sich noch die Überschrift „Theo-
logie und Boxen“, vgl. Musil 1989b, S. 1973
182 Musil 1989a, S. 29
183 Ebd.
184 Ebd.
185 Kohtes 1999, S. 63
186 Musil 1989a, S. 29
187 Ebd.
188 Berg et al. 1981, S. 225
189 Musil 1978b, S. 798
190 Musil 1978e, S. 793
326 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440