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Im Sporttreiben werden „prälogische Bedürfnisse“318 entfaltet. In den „unre-
flektierten Handlungen des Sports erlebt der Mensch […] das Glück eines inni-
gen Einsseins“319. Musil hält das Erlebnis sportlicher Entrückung „ausdrücklich
nur für einen Modus“320 und nicht für das „Ziel der Lebensbewältigung“321.
Boxen mit seiner örtlich und zeitlich genau abgezirkelten Präsenz dient auch in
diesem Zusammenhang als ideale Versuchsanordnung: Der erstrebte Zustand
der Entfesselung und des Nicht-Nachdenkens, die Musils Sportfaszination il-
lustrieren, lässt sich durch Boxen veranschaulichen; Boxen bildet im Kern auch
schwer verständliche physiologische Vorgänge ab, die den Zuschauern in den
Rängen jedoch ohne viel Nachdenken plausibel erscheinen: Die Sportler stre-
ben im Ring eine Art Reflexionsstopp zweiter Hand an – Gedankenfluss und
mentale Assoziationsfähigkeit sollen, ehestens im Moment der Attacke, die den
Gegner zu Boden zwingt, als ein Resultat der im Training geschulten Kopfar-
beit, die immer auch Körperarbeit ist, reflexartig abreißen. Der körperlichen
und geistigen Autorität der Athleten, basierend auf antrainierter Schnelligkeit,
Muskelkraft, Körper- und Geistesbeherrschung, eröffnen sich im Wirbeln von
Kontingenz und Kräfteaufeinanderprallen neue Möglichkeiten. Der perfekt ko-
ordinierte Ablauf der sportlichen Bewegung „entzieht sich der bewussten Kon-
trolle und gibt dadurch neuen, anderen Formen“322 des Erlebens und des Ent-
fesselt-Werdens Raum. Boxen ist somit durch die Erfahrungen des körperlich
„Ungebärdigen“323 geprägt. Die Qual und der Schmerz des Trainings dienen da-
bei einerseits als selbsttechnologische Disziplinierungsmaßnahmen, die helfen
sollen, die Grenzen von Kraft, Konzentration und Koordination zu überschrei-
ten; andererseits sollen die fetischisierten Rituale, die im Training Anwendung
finden, im Boxring in die freie Erprobung des Eintrainierten zusammenlaufen
– im Idealfall als Entfesselung rabiater Intensität und als partieller Kontrollver-
lust. Ulrich widmet sich intensiv den Möglichkeiten des Boxens: Musil probt
im Mann ohne Eigenschaften die Verästelung und Vertiefung des Boxens mit
Geistigem und Irrational-Mystischem. Es scheint kein Zufall, dass sich Ulrich
danach sehnt, „in Geschehnisse verwickelt zu sein wie in einen Ringkampf“324,
gleichviel, ob es sich dabei um „sinnlose oder verbrecherische“325 handle; allein
318 Baur 1980, S. 110
319 Bernett 1960, S. 151; Anne Fleig spricht von der „Möglichkeit augenblickhaft aufscheinender
Einigkeit des eigenen Ich“, Fleig 2005, S. 93
320 Müller 2004, S. 124
321 Ebd.
322 Fleig 2008, S. 185
323 Müller 2004, S. 122
324 Musil 1989a, S. 738
325 Ebd.
342 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440