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Es gab keinen freien Nachmittag, den er nicht dazu benutzte, auf den Zehenspit-
zen spazieren zu gehen. Wenn er sich in einem Zimmer unbeobachtet wußte, griff
er mit der rechten Hand hinter den Schultern vorbei nach den Dingen, die links
von ihm lagen, oder umgekehrt. […] Es durfte nicht ausbleiben, daß er bei dieser
Lebensweise unüberwindlich stark werde. Aber ehe das geschah, bekam er Streit
auf der Straße und wurde von einem dicken Schwamm von Menschen verprügelt.
Bei diesem schimpflichen Kampf nahm seine Seele Schaden, er wurde niemals
ganz so wie früher, und es war lange fraglich, ob er ein Leben ohne alle Hoffnung
werde ertragen können.358
Dem zirkulierenden Ideenverkehr, dem die Glorifizierung von Körper, Kampf
und Konkurrenz zugrunde liegt, begegnet Musil in Der Riese Agoag mit Pole-
mik: „Ihm ahnte ein wenig von der männlichen Schicksalswahrheit, die in dem
Ausspruch liegt: Der Starke ist am mächtigsten allein!“359 Dem Helden eröffnet
sich bald eine märchenhafte Chance – und Musil die Möglichkeit der Parodie
auf ein übertriebenes, märchengleiches Heldentum, wie im trivialliterarischen
Schreiben über Boxen praktiziert:
Da rettete ihn ein großer Omnibus. Er wurde zufällig Zeuge, wie ein riesenhafter
Omnibus einen athletisch gebauten jungen Mann überfuhr, und dieser Unfall, so
tragisch für das Opfer, gestaltete sich für ihn zum Ausgangspunkt eines neuen Le-
bens. Der Athlet wurde sozusagen vom Dasein abgeschält wie ein Span oder eine
Apfelschale, wogegen der Omnibus bloß peinlich berührt zur Seite wich, stehen
blieb und aus vielen Augen zurückglotzte. Es war ein trauriger Anblick, aber unser
Mann nahm rasch seine Chance wahr und kletterte in den Sieger hinein.360
Musil treibt das übertriebene Athletikverlangen und den enthemmten Trai-
ningseifer des Helden in einem dunklen Märchenende auf die Spitze:
Er benutzte nun jede freie Stunde nicht mehr zum Sport, sondern zum Omnibus-
fahren. Sein Traum war ein umfassendes Streckenabonnement. Und wenn er es
erreicht hat, und nicht gestorben, erdrückt, überfahren worden, abgestürzt oder in
einem Irrenhaus ist, so fährt er damit noch heute.361
358 Ebd., S. 532
359 Ebd., S. 533
360 Ebd., S. 532
361 Ebd., S. 533
346 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440