Seite - 349 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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flexiver Aufmerksamkeit zum Ziel haben; Körper- und Kraftreserven sind im
Boxen nicht restlos zu domestizieren. Boxer müssen als Beweis von Angriffslust
und Unbeugsamkeit außerordentliche Schlagkraft und motorische Kombina-
tionsfähigkeit beweisen; verselbstständigter Aktivismus, in dem Körperliches
und Geistiges zu einem Amalgam des Athletischen verschmelzen, soll an die
Stelle eines bewussten gedanklichen Reflektierens treten. Die Einstrahlungen
des Denkens bringen den Athleten um den Triumph: Sowie nur ein „etwas grö-
ßerer Lichtstrahl von Überlegung in dieses Dunkel“377 gerate, vermerkt Musil
in Durch die Brille des Sports (siehe auch unten), falle man „aus dem Rennen“378.
Im Sport vermengen sich die Komplexe des Körperlichen mit jenen des Geis-
tigen und Sinnlichen zu einem diskursiven Gebilde, das sich „schwer fassen“379
lasse und dessen Wirkung verblasse, „wenn es inhaltlich zu sehr aufgeladen“380
scheint. In Durch die Brille des Sports macht Musil deutlich:
Im Gegenteil, man muß einige Tage vor dem Wettkampf sogar das Training ein-
stellen, u[nd] das geschieht aus keinem anderen Grund, als um den Muskeln u[nd]
Nerven die letzte Verabredung untereinander zu ermöglichen, ohne daß sie von
Wille, Absicht u[nd] Bewußtsein dabei gestört werden. Das ist einer der größten
Reize des Sports. Im Augenblick der Ausführung springen u[nd] fechten dann
die Muskeln u[nd] Nerven mit dem Ich, nicht dieses mit ihnen, u[nd] sowie nur
ein etwas größerer Lichtstrahl von Überlegung in dieses Dunkel gerät, fällt man
schon aus dem Rennen. Das ist aber nichts anderes als ein Durchbruch durch die
bewußte Person, eine Entrückung.381
Die Handlungsmuster des boxsportlichen Trainings, in dessen Rahmen die Kör-
per der Athleten gedrillt, diszipliniert, mechanisiert, funktionalisiert und „bis ins
kleinste codiert“382 werden, lassen sich, angelehnt an Foucault, als „Kontrollpro-
zeduren“383 werten; als „Technologien individueller Beherrschung“384 mit dem
Ziel der Erlangung jener Körperformatierung, mit der das „Individuum auf sich
selbst einwirkt“385. Im Essay Sportgeist und Zeitkunst beschreibt Marieluise Flei-
ßer 1929 die Folgen systematischer Trainingsarbeit:
377 Musil 1978e, S. 793
378 Ebd.
379 Fleig 2008, S. 151
380 Ebd.
381 Musil 1978e, S. 793
382 Foucault 1977a, S. 175
383 Foucault 1977, S. 45
384 Foucault 1993, S. 27
385 Ebd. 349
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440