Seite - 350 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Die Nervenbahnen, auf denen der Wille sich in Körperbewegung umsetzt, werden
eingefahren, bis sie mit kleinster Reibung reagieren. Das Resultat ist Entschlußfähig-
keit. Sehnen, Muskeln, Nerven, Knochen werden an das Bringen von Kraft, an Kalt-
blütigkeit, Kontrolle, Tempo, Durchhalten, Steigerung, an wurfartige Verdichtungen
des Antriebs und jene plötzlichen Explosionen der Muskelstränge gewöhnt.386
Technisierung und Körper-Geist-Instrumentalisierung werden im Training von
Wiederholung und von „großen Prozeduren der Unterwerfung“387 dominiert.
Boxer und Muskelformungsapparat sollen förmlich verschmelzen. Training als
eine „Technologie des Selbst“388 setzt auch direkt am Körper des Boxers an und
bezieht die Komponenten von Kampf und Kraft, Disziplin und Konzentration
mit ein. „Den Flaneur Musil“, bemerkt Hanns-Marcus Müller, „führen seine
Spaziergänge auch in die Trainingshalle der Boxer.“389 (Wo er selbstredend, ge-
nauso wie Brecht, nicht allzu lange verweilt; Boxen untersuchen diese Autoren
vor allem in den Dimensionen des Diskursiven, das von körperkulturellen Im-
plikationen geprägt ist: Wohl allein auf diese Weise lässt sich das Phänomen
Boxen einer schonungslosen analytische Durchdringung unterwerfen.) Musil
definiert Training aber keineswegs als ein Phänomen reiner Körper- und Ei-
gendressur mit dem Ziel individueller Selbsterhöhung. „Der aktive Sportsmann:
Stoppuhr, Metermaß. – Allerdings sonderbares Wohnen in einem solchen Kör-
per“390, distanziert er sich in einer Textvariante von Durch die Brille des Sports:
„Aber welche Stupidität im Training. Welche Wiederholung, Schulzwang und
-öde.“391 Musil bremst auch die Dynamik des steten Vorwärts als Teil der Trai-
ningsversprechungen ein. Die durch Training erstrebte Selbstglorifizierung
macht der Autor als ein Ausdruck suggestibler Größe sichtbar, der sich in den
allenthalben wirksamen Gigantismen des Weiter, Schneller und Höher fügt. In
Als Papa Tennis lernte scheinen die Auswirkungen regelmäßigen Trainings als
eine Form trügerischer Selbstorganisation auf:
Auch die Suggestion, die im Erlernen jeder Sache liegt, wenn man sich ihm erst
einmal hingegeben hat, darf nicht vergessen werden; hat man etwa hundert Stun-
den und Anstrengungen zum Opfer gebracht, so opfert man ihm auch die hun-
386 Fleißer 1989a, S. 318f
387 Foucault 1977, S. 31
388 Foucault 1993, S. 27
389 Müller 2004, S. 130; zum Praxisraum des Gym vgl. Junghanns 1997, S. 145f und Wacquant 2003,
S. 22–62; zu den apparativen und technischen Voraussetzungen des Boxtrainings vgl. Ellwanger
2008, S. 138–144; Job 2003, S. 182f; Weinmann 1998, S. 93–96
390 Musil 1978ee, S. 1771
391 Ebd.
350 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440