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ausholt, scheint plötzlich eine fremde Gewalt zu ergreifen, ihn mit tollen Fähig-
keiten zu durchdringen, sich seiner zu ihrer Sichtbarwerdung zu bedienen. Der
Mensch geht sozusagen eine vorübergehende chemische Verbindung mit einem
Wesen anderer Dimensionen ein. Diese Verschmelzung kann wie der Blitz von
einer ihn anziehenden Spitze durch den in Höchstform arbeitenden Körper aus-
gelöst werden. Sie ist die höchste natürliche Form von Tätigkeit, die wir beim
Menschen kennen.445
Nur wenig später, 1932, macht sich auch der Journalist Rolf Nürnberg Gedanken
über das Zusammenwirken von Körper und Geist. Die Passage aus der Biografie
Max Schmeling illustriert, wie weit Fleißer sich der Idee von der leibseelischen
Durchformung des Menschen im Unterschied zu vielen ihrer Zeitgenossen be-
reits angenähert hat; Nürnberg schreibt:
Ein halbes Jahrhundert oder ein ganzes hat den Körper vernachlässigt. Um ihn zu
retten, kann man die Verrohung wählen, die Rückbildung. Dann wäre der Geist
sein Gegensatz. Dann müßten auch die Völker sich immer wieder zerfleischen.
Oder der Geist ergreift die Drähte, an denen die Muskelkraft spielt. Der Muskel
wird Instrument des Gehirns. Der Körper wird zum Ausdruck und zum Saldo der
Persönlichkeit. Seine Mittel werden nicht zu einem Klumpen summiert, sondern
nach den Entscheidungen der obersten Kammer eingesetzt. 446
Fleißer unterstreicht die Möglichkeit, die Geschichte des Sports in der Zeit der
Weimarer Republik als eine Funktion diskursiver Wechselwirkungen zwischen
Sport, Gesellschaft und individuellem Erleben darzulegen. In einer früheren,
leicht überarbeiteten Version von Sportgeist und Zeitkunst spricht Fleißer davon,
dass der moderne Menschentyp ein „Bruder des Blitzes“447 sei.448 Musils psy-
445 Fleißer 1989a, S. 319
446 Nürnberg 1932, S. 27f
447 Fleißer 1980, S. 76
448 Jahrzehnte später, 1957, macht sich Roland Barthes in Die Tour de France als Epos auf die Suche
nach dem Zusammenwirken von Körper und Geist im Sport; unkontrollierbare Kräfte, etwas
geradezu Fluides, so Barthes, strömten im Moment der Höchstleistung durch die Sportler – in
diesem Fall Radsportathleten: „Die Kraft, die der Fahrer besitzt, […] kann zwei Aspekte an-
nehmen: die Form, eher ein Zustand als ein Elan, privilegiertes Gleichgewicht zwischen den
Qualitäten der Muskeln, der Schärfe der Intelligenz und der Willensstärke, und der ‚jump‘ (der
‚Sprung nach vorn‘ – d. Übers.), ein wahrer elektrischer Stromstoß, der ruckartig bestimmte, von
den Göttern geliebte Fahrer erfasst und sie dann übermenschliche Leistungen vollbringen lässt.“
(Barthes 1986a, S. 28; Hervorh. im Orig.) Der jump, schreibt Barthes, setzte eine „übernatürliche
Ordnung“ (ebd.) voraus, in welcher der Mensch siege, „wenn ein Gott ihm“ (ebd.) helfe. 357
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440