Seite - 364 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
Bild der Seite - 364 -
Text der Seite - 364 -
heute. Man wußte bloß nicht, wohin. Man konnte auch nicht recht unterscheiden,
was oben und unten war, was vor und zurück ging.506
Überblick und Orientierung sind auch Ulrich abhandengekommen. Die „vor-
nehme Stille“507 seiner in sicherer Distanz zum Straßengetümmel gelegenen
„Gelehrtenwohnung“508 garantiert kein Behütetsein und keinerlei soziale Abge-
schiedenheit. Die Szenerie auf der Straße vor dem Fenster – Autos, Fußgänger,
Trambahnen, in den Epochensignaturen von Tempo und „ameisenhafte[r]“509
Masse kompakt verzurrt510 – bildet sich in Ulrichs „Netz des Blicks“511 ab, wie
Musil Ulrichs Auf-die-Straße-Blicken mit einem Idiom aus dem Bereich der
Flechtwerk-Metaphorik umschreibt. Die „Sprünge der Aufmerksamkeit […],
die Leistungen der Augenmuskeln, die Pendelbewegungen der Seele“512 ver-
sucht Ulrich deshalb in eine Einheit zu verschmelzen, bevor er „zwei Schlüs-
se“513 zu ziehen beginnt, in denen er die „Muskelleistung“514 von Bürger und
Athlet gegenüberstellt und zukünftiges „rationalisiertes Heldentum“515 ironisch
beschwört. Neben Hanteln und einer schwedischen Leiter zählt zu Ulrichs pri-
vaten Sportrequisiten auch ein Punchingball.516 Fast „wie ein kranker Mensch,
der jede starke Berührung scheut“517, so entfernt sich Ulrich von seinem Be-
obachtungsposten am Fenster – und demonstriert augenblicklich, wie man im
Sinne Nietzsches mit dem Hammer philosophiert. Als Ulrich,
sein angrenzendes Ankleidezimmer durchschreitend, an einem Boxball, der dort
hing, vorbeikam, gab er diesem einen so schnellen und heftigen Schlag, wie es in
Stimmungen der Ergebenheit oder Zuständen der Schwäche nicht gerade üblich
ist.518
506 Ebd.
507 Ebd., S. 12
508 Ebd.
509 Ebd., S. 13
510 Vgl. ebd., S. 12
511 Ebd.
512 Ebd.
513 Ebd.
514 Ebd.
515 Ebd., S. 13
516 Vgl. ebd., S. 893
517 Ebd., S. 13
518 Ebd.
364 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440