Seite - 370 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Wälder geflüchtete und später von Magenschlag aufgespürte Geistesmensch
Denk kommentiert von seinem verborgenen Beobachtungsposten im Baum das
Zusammensein der Verliebten Tempora und Faust indes unverblümt: „Ein Rie-
senkalb mit einem noch riesigeren Schlächter!“578 Erst in Ulrich im Mann ohne
Eigenschaften scheinen die psychotechnischen Prozesse und Verhaltensmuster
verinnerlicht, die beim Dreschen auf einen Punchingball oder im Straßenkampf
reflexartig abrufbar sein müssen. In Durch die Brille des Sports und im Mann ohne
Eigenschaften stellt Musil schließlich eine annähernd gleichlautende Frage. Dür-
fen Genies aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften, verstanden als das Zu-
sammenwirken von Kraft, Geist und Seelenzustand, genial genannt werden?579
Musil rückt selbst die „Geniefrage in den Kontext der Psychotechnik“580. In
deutlicher Überbetonung des neusachlichen Tatsachenfurors stellt er fest, dass,
wollte man genau sein, nichts anderes übrig bleibe, als den „Begriff des Genies
psychotechnisch zu normen“581. Was auf dem widerspruchsfreien Feld neusach-
licher Funktionszusammenhänge vielleicht funktioniert, wird bei Musil zum of-
fenen ironischen Widerspruch. Der Hauptbestandteil des Genie-Begriffs,
schreibt Musil in Durch die Brille des Sports, sei
das Unvergleichliche und dieses läßt sich natürlich auf Geschwindigkeiten, Mus-
keln, körperliche Treffsicherheit udgl. eindeutiger anwenden als auf geistige Leis-
tungen. Andere Bestandteile, wie Kampfmut, Genauigkeit der Arbeit, Ehrgeiz,
Konzentration, Wendigkeit, wichtige Kombinationsgabe vor auftauchenden Hin-
dernissen, das heißt Urteilsfähigkeit und Assoziationsgeschwindigkeit finden sich
in Brust und Gehirn eines genialen Rennpferdes genau so entwickelt wie in denen
eines Dichters. Die eindringende Psychotechnik wird nur einen einzigen Unter-
schied bestehen lassen: den der Zusammenfassung dieser Fähigkeiten zu der Art
der Leistung und der Person. Aber unter den Leistungen sind es heute schon die
körperlichen, die fast allen Menschen Vergnügen machen, was man von den geisti-
gen nicht sagen kann, und was die Personen angeht, so hat man sich eben von den
menschlichen zu den pferdlichen gewandt, weil man über die ersteren nicht einig
werden konnte. Ich glaube, die Pferde werden es bald satt haben, Semiramis und
Charlemagne zu heißen, oder höchstens es beibehalten, um einen Pferdekalender
zu stiften, nach dem man unsere Enkel benennen kann.582
578 Ebd., S. 560
579 Vgl. Musil 1978e, S. 794; Musil 1989a, S. 44f
580 Fleig 2008, S. 257
581 Musil 1978e, S. 794
582 Ebd.
370 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440