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und Geistesgrenzen ein. Je „restloser dies gelingt, desto besser“591, kommentiert
er in der Psychotechnik-Schrift. Musil geht davon aus, dass sich das sportliche
Handeln der bewussten kognitiven Kontrolle und damit dem „Erfahrungswis-
sen“592 entziehe; er erweitert das Repertoire des Sporterlebens in Richtung ei-
ner „tranceartig-zupackende[n] Eindeutigkeit“593, hin zu einem „ekstatischen
Erlebnis“594, das sich aber zugleich vom „Zugriff kontrollierender Geistesins-
tanzen“595 emanzipiert. Mit den im „Augenblick der Tat“596 zu beobachtenden
Entgrenzungstendenzen von Körper und Geist ist damit ein weiterer wichtiger
Rahmen von Musils Sportanalyse aufgemacht. Musil widmet sich intensiv den
verborgenen diskursiven Unterströmungen, die in der Zeit der Weimarer Re-
publik gedankliches Schwemmgut am Rand des Interesses vieler Intellektueller
waren. Er beargwöhnt die Dominanz des Nur-Körperlichen: Das „schönkörper-
liche Geplapper“597 unterzieht er konkreter Kritik. Im Mann ohne Eigenschaften
wird dann jenes „wunderbare Gefühl der Entgrenzung und Grenzenlosigkeit
des Äußeren wie des Inneren“598 detailschärfer fokussiert, das, wie Agathe im
Gespräch mit Ulrich anführt, der Liebe und der Mystik gemein sei.599 Im Ka-
pitel Atemzüge eines Sommertags stellt Agathe fest, dass der „Geist aller Werk-
zeuge“ 600 zu berauben und daran zu hindern sei,
wie ein Werkzeug gebraucht zu werden. Das Wissen ist von ihm abzutun und das
Wollen; der Wirklichkeit, und des Begehrens, sich ihr zuzuwenden, muß man sich
entschlagen; Kopf, Herz und Glieder müssen an sich halten, als bestünden sie aus
Schweigen. Und wenn man die höchste Selbstlosigkeit erreicht hat, berühren sich
Außen und Innen, als wäre ein Keil ausgesprungen, der die Welt geteilt hat.601
Das Zusammenspiel von Nerven und Muskeln erkennt Musil im Mann ohne Ei-
genschaften als „Geheimnis der taghellen Mystik“602. Im Boxen werden Körper-
wie Geistes- und Bewusstseinsgrenzen überschritten. Kraft und Geist, vorsätzli-
591 Musil 1980, S. 183
592 Fleig 2008, S. 205
593 Müller 2004, S. 124
594 Fischer 2001, S. 105
595 Müller 2004, S. 118
596 Musil 1989a, S. 28
597 Musil 1978m, S. 1148
598 Musil 1989a, S. 765
599 Musil 1989b, S. 1241; ebd., S. 1241f
600 Ebd., S. 1241
601 Ebd., S. 1241f
602 Ebd., S. 1089
372 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440