Seite - 373 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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che und automatisierte Bewegung, mechanisierte und von Reflexion entkoppelte
Leibfunktionen kommen idealtypisch zum Ausdruck: Der Boxer als Tat- und
Tatsachenmensch tritt im grellen Licht der Scheinwerfer in einen „anderen Zu-
stand“603 – einen Ausnahmezustand. Im psychotechnisch untermauerten Blick
auf die Felder vital funktionierender Leiblichkeit und geistiger Fle x i bilität ge-
staltet Musil, abseits des obligaten Sportbegeisterungstaumels, einen Betrach-
tungsrahmen, der die Spannungszustände moderner Sportpraxen einbezieht:
„Dass es im Mann ohne Eigenschaften an Verknotungen, Verstrickungen und
Verschlingungen fehlte, die nach traditionellem Verständnis unverzichtbar zu
einer Fabel gehören, wird man also kaum behaupten können“604, protokolliert
Inka Mülder-Bach in ihrer Studie. „Überall juckt und zuckt, zerrt und reißt es
in Nähten, Stricken und Fesseln. Das Problem scheint eher darin zu liegen, dass
es unzählige Verwicklungen gibt, die ihrerseits alle irgendwie zusammenhän-
gen, und dass ihr Zusammenhang so unermesslich kompliziert ist, dass es kein
Durchkommen gibt.“605 Ein Boxschlag kann gemäß Musil als Schmerz und
Kränkung – oder als Ausdruck von Sportlichkeit verstanden werden. Im Mann
ohne Eigenschaften schreibt er:
Ganz einfach gesprochen, man kann sich zu den Dingen, die einem widerfahren
oder die man tut, mehr allgemein oder mehr persönlich verhalten. Man kann einen
Schlag außer als Schmerz auch als Kränkung empfinden, wodurch er unerträglich
wächst; aber man kann ihn auch sportlich aufnehmen, als ein Hindernis, von dem
man sich weder einschüchtern noch in blinden Zorn bringen lassen darf, und dann
kommt es nicht selten vor, daß man ihn überhaupt nicht bemerkt.606
Jedes Erlebnis, führt Musil weiter aus, erhalte seine „Bedeutung […] erst durch
seine Stellung in einer Kette folgerichtiger Handlungen“607 verliehen. Mu-
sil räumt dem scheinbar Einfachen eines Boxschlags, das sich bei genauerem
Hinsehen als eine Folge komplexer Zusammenhänge erweist, entscheidenden
Einfluss ein: Erstaunlicherweise nenne man das, rätselt er im Mann ohne Eigen-
schaften, „was man beim Boxen als überlegene Geisteskraft empfindet, nur kalt
und gefühllos, sobald es bei Menschen, die nicht boxen können, aus Neigung
zu einer geistigen Lebenshaltung“608 entstehe. In seinem Schreiben über den
603 Musil 1989a, S. 755
604 Mülder-Bach 2013, S. 240
605 Ebd.
606 Musil 1989a, S. 149
607 Ebd.
608 Ebd.; für Norbert Christian Wolf entspringt diese Bemerkung des Erzählers im Mann ohne
Eigenschaften dem Umstand, dass die „intellektuelle Befähigung zu kühler, distanzierter und von 373
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440