Seite - 375 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Beweglichkeit in allen seinen Gliedern“610 überzeugen Diotima davon, dass
„bösartige, hämische, umgebogen-wollüstige Bedürfnisse in diesem Körper
nicht zu Hause“ 611 sein können. Sie empfindet Ulrich als „glatt rasiert, groß,
durchgebildet und biegsam muskulös“612, sein Gesicht erscheint ihr „hell und
undurchsichtig“613; in seinen Grundzügen sei Ulrich ein „männlicher Kopf“614.
Die Exaktheit der Registratur von Ulrichs Körperlichkeit stellt Musil jedoch
umgehend in Zweifel. Als sich der Mann ohne Eigenschaften für einen Betrun-
kenen einsetzt und deswegen von der Polizei kriminaltechnisch untersucht wird,
misstraut er den Ergebnissen der polizeilichen Feststellung seiner Körpermaße.
Ulrich glaubte,
in eine Maschine geraten zu sein, die ihn in unpersönliche, allgemeine Bestandteile
zergliederte, ehe von seiner Schuld oder Unschuld auch nur die Rede war. […]
Nach seinem Gefühl war er groß, seine Schultern waren breit, sein Brustkorb saß
wie ein gewölbtes Segel am Mast, und die Gelenke seines Körpers schlossen wie
schmale Stahlglieder die Muskeln ab, sobald er sich ärgerte, stritt oder Bonadea
sich an ihn schmiegte; er war dagegen schmal, zart, dunkel und weich wie eine im
Wasser schwebende Meduse, sobald er ein Buch las, das ihn ergriff, oder von einem
Atem der heimatlosen großen Liebe gestreift wurde, deren In-der-Welt-Sein er
niemals hatte begreifen können.615
Ulrich sei „begabt, willenskräftig, vorurteilslos, mutig, ausdauernd, draufgänge-
risch, besonnen“616, lässt der gegenüber Ulrich argwöhnische Walter in der Be-
schreibung seines Schwagers das Porträt eines Athleten durchschillern: Ulrich,
so Walter, könne „boxen“617. Clarisse gegenüber äußert Walter am Abendbrot-
tisch:
Du kannst keinen Beruf aus seiner Erscheinung erraten, und doch sieht er auch
nicht wie ein Mann aus, der keinen Beruf hat. Und nun überleg dir einmal, wie er
610 Ebd., S. 282
611 Ebd.
612 Ebd., S. 93
613 Ebd.
614 Ebd., S. 151
615 Ebd., S. 159
616 Ebd., S. 65; um 1921 notiert Musil in Heft 22 seiner Aufzeichnungen in einer Vorarbeit zum
Mann ohne Eigenschaften: „Vor der Einzelaufgabe: wie beim Boxen. Seine körperliche Natur
(Draufgängernatur) setzte sich hier direkt in eine Art Geist um.“ (vgl. Musil 2009, Transkripti-
onen & Faksimiles, Nachlass Hefte, Heft 22)
617 Ebd. 375
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440