Seite - 381 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen, die sich ebenfalls den in „unentwirrbarer
Mischung“659 realisierten ökonomischen, sozialen und kulturellen Diskursen zu
stellen hatten, flüchtet Musil vor der „Unfaßlichkeit des Ganzen“660 aber weder
ins Superlativische, welches Boxen auch immer offeriert, noch in die banalisierte
Empirie neusachlichen Denkens mit seiner Faktenpräferenz, die im körper-
technisierten Fighten, seiner Schemen von Kontingenz und Unberechenbarkeit
zum Trotz, aufgehoben scheint. Musil belässt Ulrich auf dem weiten Feld der
Ambivalenz. Er stattet den Mann ohne Eigenschaften, der „jedes Abenteuers
gewärtig ist“661, zwar mit einem durchtrainierten Körper aus und verleiht Ul-
rich so die Insignien des Boxens; seinem Protagonisten verweigert er aber jede
umfänglichere Teilnahme und Teilhabe am Boxen. Als sich Ulrich für einen
Betrunkenen einsetzt und so die Aufmerksamkeit eines Polizisten erregt, der
Ulrich unsanft umfasst, verzichtet dieser auf Gegenwehr662; denn er will sich
nicht in einen „aussichtslosen Boxkampf mit der bewaffneten Staatsgewalt“663
einlassen. Die morgendlichen Stöße gegen den Sandsack und der Streit mit den
drei Strolchen, in dessen Verlauf Ulrich seine körperliche Kraft im Nachdenken
über diese versagt und den er retrospektiv, die Sanftheit des rettenden Dau-
nenbettes auskostend, als „Abenteuer“664 bewertet, nimmt Ulrich einerseits zum
Anlass verstärkter Selbstreflexion; andererseits scheint er von jeder Partizipation
an der kollektiven Feier von Körperaktivität und Leibdynamik ausgeschlossen,
die Oberflächenreize forciert und verherrlicht. Auf der einen Seite wird Ulrich
von Musil in verlässlich ironischer Grundhaltung in den Nachgelassenen Frag-
menten zum Mann ohne Eigenschaften zu einem „Repräsentant[en] der Zeit“665
erhoben, der den sportiven „,Geist des Jahrhunderts‘ ebenso verkörpert wie die
innere Entfremdung von ihm“666; auf der anderen Seite scheint es nicht ohne
Belang, dass Ulrich nicht aktiv boxt; er wird allenfalls mit der rüpelhaften Mi-
litanz dreier Straßenschläger konfrontiert. Ulrich, dem Musil emblematischen
Boxerstatus zuteilt, kann sich in der Rauferei auf das Regelwerk des Boxens,
auf die abgesicherte Macht- und Spannungsbalance sportlichen Ringringens
nicht mehr verlassen. Boxen wird mit Direktheit und Körperlichkeit assozi-
iert, fern sportlicher Emphase. Die domestizierte und reglementierte Rauflust
wird zu einem Versuchsfeld, um die Teilhabe am modernen Leben auszutesten.
659 Peukert 1987, S. 90
660 Jaspers 1998, S. 100
661 Musil 1989a, S. 46
662 Vgl. ebd., S. 156ff
663 Ebd., S. 158
664 Ebd., S. 25
665 Musil 1970, S. 1595
666 Ott, Tworek 2006, S. 109 381
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440