Seite - 384 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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gefüllte Gummischläuche in die Hand, um den Leib eines Mitmenschen damit
krankzuschlagen, und stellt für den einsamen und mißhandelten Leib hinterdrein
Daunenbetten bereit, wie es eines war, das in diesem Augenblick Ulrich umgab,
als wäre es mit lauter Hochachtung und Rücksicht gefüllt. Es ist das die bekannte
Sache mit den Widersprüchen, der Inkonsequenz und Unvollkommenheit des Le-
bens. Man lächelt oder seufzt dazu.681
Musil knüpft das Phänomen des Kämpfens in ein Netz diskursiver Positionen,
die weit über die Banalität des Boxens hinausreichen. Die auf Konkurrenz und
Kräftemessen geschrumpfte Signatur, die in vielen Schriften der Zeit in kom-
battantes Pathos kippt und in ideologischen Schemata feststeckt, beschreibt er
als eine zentrale mentale Disposition, die in der positiven Ekstase des Denkens
aufblitzt. Musil immunisiert Ulrich von vornherein gegen den Verdacht, eine
bloße Reflexionsfigur der in den Material- und Menschenschlachten des Ers-
ten Weltkriegs verloren geglaubten Prinzipien von Individualismus, körperli-
cher Ganzheitlichkeit und leibseelischer Harmonie zu sein; Ulrich präsentiert
sich als Lebensathlet, der den extremen Wirkkräften der Moderne ausgesetzt
wird. Die öffentlich entfesselte Feier des boxsportlichen Begeisterungsrauschs
konterkariert Musil mit Hilfe durchgängiger Ironie, im Sinne eines doppelbö-
digen Sprechens: Bonadea ist sich bei der Unterredung mit Ulrich über dessen
nächtliches Kampferlebnis etwa nicht sicher, ob „er ernst spreche oder spotte“682,
und ob Ulrichs erregtes Sprechen, „verwirrt und hilflos“683, nicht bloßes physio-
logisches Resultat einer „Gehirnerschütterung“684 sei. Musil geht auch nicht von
den Dominanten Körperschönheit und Körperstärke aus. Ulrich nimmt sich
selbst gegenüber eine „Beobachterposition“685 ein, bar jeder „Handlungssicher-
heit“686, die sein morgendliches Boxtraining sowie sein „Verlangen nach athleti-
scher Vorbereitung des Körpers“687 verheißen. Er empfindet die Gassenattacke
zunächst als einen erklärungsbedürftigen Störfall, den er sich als Mischung in-
dividualistischen und kollektiven Erlebens zu erklären sucht: Das mache „das
Alter“688, so Ulrich, und jener „Zustand einer ungewissen, atmosphärischen
Feindseligkeit“689, der unvermeidlich „feindselige Akt[e] gegen seine Umge-
681 Musil 1989a, S. 27
682 Ebd., S. 29
683 Ebd., S. 28
684 Ebd., S. 29
685 Müller 2004, S. 209
686 Fischer 2001, S. 108
687 Musil 1989a, S. 592
688 Ebd., S. 26
689 Ebd.
384 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440