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bung“690 setze. Musil zielt aber nicht nur auf den Zusammenhang von indivi-
duell-inneren und kollektiv-äußeren Gegebenheiten; es werden noch weitere
diskursive Bereiche erfasst: Der Autor pointiert, indem er Boxen als deutliches
Modernesignal in Ulrichs Körper einschreibt, seine differenzierte Haltung zur
zeitgenössischen Sporterlebnishysterie. Sport ermögliche, selbst in Form einer
„unglücklich verlaufenen Schlägerei“691, das temporäre „Glück eines innigen
Einsseins“692, den Zustand, wie Musil im Mann ohne Eigenschaften vermerkt,
eines „fast unnatürlichen Klarwerden[s] des Körpers“693 – wobei dem Boxen
mit den drei Gegenspielern nur untergeordnete Bedeutung zukommt: Trotz
seiner am Punchingball eingeübten pantherartigen Stärke und athletischen Ge-
schmeidigkeit geht Ulrich im nächtlichen Streit als blutig gehauener Verlierer
vom Platz. Statt sich zu wehren, „hatte er, in „Gedanken […] zerstreut und mit
etwas anderem beschäftigt“694, einen „Augenblick gezögert“695 und damit „einen
Fehler begangen“696, der von Ulrich, verschrammt und verarztet im Bett liegend,
schnell und mit „Entzücken“697 ausgemacht ist:
Er wollte nicht glauben, daß die drei Antlitze, die ihn mit einemmal in der Nacht
mit Zorn und Verachtung anblickten, es nur auf sein Geld abgesehen hatten, son-
dern gab sich dem Gefühl hin, daß da Haß gegen ihn zusammengeströmt und
zu Gestalten geworden war; und während die Strolche ihn schon mit gemeinen
Worten beschimpften, freute ihn der Gedanke, daß es vielleicht gar keine Strol-
che seien, sondern Bürger wie er, bloß etwas angetrunken und von Hemmungen
befreit, die an seiner vorübergleitenden Erscheinung hängengeblieben waren und
einen Haß auf ihn entluden, der für ihn und für jeden fremden Menschen stets
vorbereitet ist wie das Gewitter in der Atmosphäre. Denn etwas Ähnliches fühlte
auch er mitunter. Ungemein viele Menschen fühlen sich heute in bedauerlichem
Gegensatz stehen zu ungemein viel anderen Menschen. Es ist ein Grundzug der
Kultur, daß der Mensch dem außerhalb seines eigenen Kreises lebenden Menschen
aufs tiefste mißtraut, also daß nicht nur ein Germane einen Juden, sondern auch
ein Fußballspieler einen Klavierspieler für ein unbegreifliches und minderwertiges
Wesen hält. Schließlich besteht ja das Ding nur durch seine Grenzen und damit
durch einen gewissermaßen feindseligen Akt gegen seine Umgebung; ohne den
690 Ebd.
691 Bernett 1960, S. 145
692 Ebd.
693 Musil 1989a, S. 26
694 Ebd., S. 25
695 Ebd., S. 26
696 Ebd., S. 25
697 Ebd., S. 27 385
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440