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sches Wappnen in einem Wettkampf performativ und zirzensisch inszenierter
Handlungsformen. Im Ring – als ein weiteres Popularisierungs- und Profilie-
rungsmerkmal des Boxens – scheint die Ambivalenz menschlichen Handelns
förmlich herausgehoben: Der Boxer agiert auf dem Kampfpodium, das in der
neuzeitlichen Sportentwicklung paradoxerweise die Form eines Quadrats auf-
weist, als eine Art Kippfigur: als Kraftmensch – und Körperartist; als moderner
Herkules – und als ein mit Halb- und Unterwelt assoziierter Sportextremist; als
Medienphänomen – und Klatschpresseopfer; als Pionier körperlich-technischer
Praxis – und antimoderner Haudrauf; und, besonders vor dem Hintergrund des
Technikdiskurstransfers von Taylorismus, Fordismus und Amerikanismus, – als
Maschinen-Individuum und Menschautomat. Als Schwerathleten, die ihr Tun
spezifischen Effizienz- und Rationalisierungsabsichten unterwerfen, befördern
Boxer die Prinzipien der Modernität – und bekämpfen diese als Agenten eines
kruden, veralteten Atavismus. Boxen mag in idealtypischer Ausprägung eine
durch Disziplinierung und Technisierung abgezirkelte Show zwei Körper im
Kampf sein; die ĂĽberwiegende Zahl der Duelle zeichnet sich durch Siegesver-
bissenheit, Durchhauen und Ăśber-die-Runden-Kommen aus. Der fĂĽr Beulen
und blaue Augen verantwortliche Tatsachensinn des Boxens wird nicht zuletzt
ins Schauspielerische und Zirkushafte übersetzt – um so die Publikumsgunst zu
gewinnen. Boxen muss auch immer Show sein, unterspielt von diffuser Bedro-
hungslage und ernster Kampfsituation.
Boxen wird zu einem zentralen Teil der großstädtischen Weimarer Kultur.
Der Sport profiliert Ideale und Vorstellungen, er formiert eine neue Leit- und
Symbolfigur, der eine Reihe evidenter Eigenschaften zugeschrieben sind: Der
Sportler als Ring-Held, der Kraft, Kondition, Körperleistung, Präzision, Dis-
ziplin, Ausdauer und Perfektion, fast schon maschinengleich, verkörpert – der
brüchige Zeithintergrund, die ökonomische und gesellschaftspolitische Dauer-
krise nach 1918, verstärkt die Wirkung der populären Repräsentationsfigur, die
ebenso in den Sportnachrichten wie in den Klatschspalten der Zeitungen und
Zeitschriften ihren Stammplatz hat. Boxen mit seinen Konnotationsfeldern
voller Friktionen, Gegensätze, Analogien und Stereotypen scheint sich für Af-
firmation und Kritik der Weimarer Sportfieberkurve besonders zu eignen: der
Faustsport als Ideenpanorama en miniature? Boxen wird ebenso von den Folgen
des Ersten Weltkriegs grundiert: In den Materialschlachten und Schrapnell-Un-
wettern wurden die Soldaten zu Funktionsträgern einer unbarmherzigen logisti-
schen und waffentechnischen Maschinerie degradiert; nach der Katastrophe des
Kriegs sind die Straßen von Versehrten und Invaliden gesäumt – in der Gestalt
des Boxers wird von der Masse der Wille zu Individuation, Wiederauferstehung
und Wehrhaftigkeit zelebriert, als lockende Prophezeiung und Sinnbild fĂĽr die
Möglichkeit des sozialen und monetären Aufstiegs, wie sich das banalisierte –
390 | Zusammenfassung
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂĽberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂĽckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440