Seite - 395 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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nach den Maßgaben von Kampftechnik und Duellstil erzählerisch konturiert;
sie operieren im Ring nicht im Rahmen bestimmter Wahrscheinlichkeiten, son-
dern als Funktionsträger einer Prosa, die auf die Erzeugung romankonstitutiver
Spannung zielt. In der Unterhaltungsbelletristik mit ihren diskursiv unverbun-
denen, gleichsam additiv kompilierten Vorstellungen des Körperlichen erscheint
der Boxer als ein Produkt der Umstände, sein Agieren als ein bloßer Effekt. Der
Körper, der sich nach Foucault als Ort der Einschreibung von Geschichte an-
bietet, bleibt Leerstelle. Die Möglichkeitsbedingungen und diskursiven Wirk-
kräfte des Boxens bleiben narrativ unerforscht; stattdessen werden in den Topos
überstürzt Sakralisierungsfolkloren, Nationalismen und ökonomisches Kalkül
implementiert. Der Modernitätsschub, den sich die Trivialliteratur durch das
Signal Boxen zu verschaffen sucht, bleibt in Ansätzen stecken; Spektakel, Star-
kult und Sporteuphorie werden ohne Rückkoppelungseffekte von externen und
internen Praktiken, Diskurs-, Erkenntnis- und Wissensformationen ausgestellt.
Boxen findet als ein reines Phänomen der Oberfläche statt, in sensationshei-
schender Kolportage des Sportthemas; die Figur des Boxers erstarrt in grotesker
Verabsolutierung und Positivstilisierung.
Diskurs-Demontagen und Distinktion in der elaborierten Erzählliteratur
Es bleibt Autoren wie Joseph Roth, Franz Blei, Anton Kuh, Erich Kästner,
Ödön von Horváth, Klabund, Kurt Tucholsky und Kurt Schwitters vorbehalten,
die Boxbegeisterung zu demaskieren; die elaborierte Literatur versucht sich an
der Kulturkritik des Boxens – nicht ohne Folgen. Demaskierung und Dekon-
struktion finden vor dem Hintergrund diskursiver Erweiterungen des Boxens
statt; Boxen als einem Arrangement leicht fasslicher Bildbereiche wird eine
Absage erteilt. Das Wirbeln von Körpern in farblosem Deckenlicht, das den
Lebenskampf zur Darstellung bringen und symbolisch auf die dahinterliegende
Lebensrealität verweisen soll, wird als stilisierter sportiver Aufruhr erkannt –
und weitestgehend von jenem Ballast befreit, der vorgibt, dem semantischen
Komplex von Lebenskampf und Überlebenskampf Genüge tun zu müssen.
Neusachlich-elaboriertes Schreiben über Boxen lässt mehr durchschimmern, als
dem häufig melodramatisch formatierten, religiös verbrämten Sport zugestan-
den wird: Boxen umfasst bedeutungsgeschichtlich die Spannweite von Archai-
schem und Athletischem, Performativem und Politischem, Übercodiertem und
Überzeitlichem. Die elaboriertere Literatur nähert sich dem Boxen dabei vor-
rangig mit den Mitteln der Ironisierung, Brutalisierung und Marginalisierung;
die Gravität des Sports wird parodistisch aufgegriffen, ungleich der triviallite-
rarischen Autorenschar, welche die mit Boxen assoziierten Teile der Wirklich- 395
Diskurs-Demontagen
und
Distinktion
in
der
elaborierten
Erzählliteratur |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440