Seite - 397 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Körperökonomiekritik und Entmystifizierung der boxsportlichen Kraftmeierei
fixieren. Das literarisierte Boxen nimmt verstärkt diskursive Pole in sich auf:
Lebensmentalitäten, Praktiken, Ideologien, Fach- und Alltagskenntnisse so-
wie psychologische Plausibilitäten, aber auch Wissensformen des Komischen,
die Joseph Roth in vielen seiner Texte und Ernst Krenek in Schwergewicht
oder Die Ehre der Nation ins Parodiehafte, Kurt Schwitters in Merfüsermär und
Klabund in Spuk ins Monströse kippen lassen. Auch insofern kann Boxen als
eine Enzyklopädie des Sozialen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelesen werden.
In den Körper des Boxers scheinen bestimmte diskursive Ökonomien einge-
schrieben: Das Ideal der Propagierung wird subversiv unterlaufen, indem der
Sport in Relation gesetzt wird zu kleinteilig heruntergebrochenen Wissens- und
Disziplinarformationen. Die körperliche Regulierbarmachung wird hinterfragt;
die leibliche Konstitution des Einzelnen gilt nicht mehr als sakrosankt. Ernst
Krenek, Klabund und Roth präsentieren entzerrte Boxerbilder: Ihre Körper –
wie das Denken des Körperlichen – haben die Athleten in Training, Bildnis
eines Boxers, Schwergewicht oder Die Ehre der Nation oder Der Boxer nicht mehr
im Griff. Diese Athleten erscheinen als Individuen, die in einem Geflecht von
Machttechnologien, diskursiven Formationen und Praktiken verfangen sind.
Das ,Geistige‘ im Sport wird als kulturelle Setzung entlarvt – die Subjektivität
der Boxer bildet sich abseits der körperlichen Dimension in verhängnisvoller
Ausprägung ab: Die Sportler in diesen Texten sind in komplexen diskursiven
Zeichensystemen verfangen – die schockartigen Erfahrungen mit Boxen, denen
die Protagonisten ausgesetzt sind, zeugen davon. Damit wird aber nicht nur die
mutmaßlich leichte Lesbar- und Verständlichkeit der Sportart von Komple-
xität, Dynamik und des Chaos im Trainingssaal oder im Ring überlagert: Die
Perspektive auf den Sport schlägt in eine skeptische bis negative Anthropolo-
gie des Boxens um, die Kritik und Glücksentzauberung an den existenziellen
Verheißungsmechanismen übt. Der panoptische Blick enttarnt die kollektive
boxsportliche Verzückung als fixe Idee; der Mann im Ring wird mit Ethno-
grafenblick gemustert. Anstatt Boxen qua Affirmation zu nobilitieren, wird ein
Spektrum erweiterter Betrachtungs- und Beschreibungsperspektiven narrativ
erprobt. Boxen bewegt sich in Richtung des kausalen, vernetzten Denkens der
Moderne.
„Zeitfiguren“: Brechts Boxraumerweiterung
Während sich das Kollektiv der trivialliterarischen Autoren dem Boxen in af-
firmativ-hymnisch gestimmter Tonart nähert und das Gros der neusachlichen
Boxsportbeobachter punktuell Ironisierung, Marginalisierung und sarkastischen 397
Zusammenfassung |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440