Seite - 398 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Widerstand zur Anwendung bringt, versucht Bertolt Brecht, der sich in seinen
Schriften intensiv mit dem Sport beschäftigt, die Erfahrungswirklichkeit der
1920er-Jahre vor dem Hintergrund der Boxbegeisterung mit ihren immanen-
ten Regularien und sporttechnischen Klassifikationen, spezifischen Ă–rtlich-
keiten, Institutionalisierungen und diskursiven Ensembles zu fassen. An den
modisch-zirkulierenden Boxdiskursfragmenten zeigt er wenig Interesse; Brecht
prüft die einzelnen Bestandteile der zeitgenössischen Boxsporthochstimmung
nicht isoliert voneinander – er richtet sein Augenmerk explizit auf die sich ver-
ändernden, im Boxen manifesten ökonomischen und sozialen Diskursstränge.
Brecht stilisiert Boxen weder zum Leitmuster der nahezu inflationär prokla-
mierten Aussicht, sich mit Hilfe dieses Sports aus Systemzwängen befreien
zu können, noch bringt er Faustkampf als Phänomen in Anschlag, das Wett-
kampforientiertheit und Effizienzstreben signalisiert: Boxen wird in einem
weitreichenden Denkschritt in die mentalen Hauptströmungen der Zeit ein-
gebunden, als ein gewissermaĂźen zwingendes Resultat fortschreitender Ă–kono-
misierung und den damit einhergehenden sozialpolitischen Umbauten, wobei
die weit verbreiteten Topoi des Maschinellen und Mechanischen, ausgebrei-
tet in Myriaden von Texten, Hintergrundfarbe sind. Der Mensch gleicht sich
dem sprichwörtlichen Gang des Zeitabschnitts nicht lediglich mimetisch an,
er wird regelrecht infiltriert: Brecht rĂĽckt Boxen in den Mittelpunkt der Epo-
chenbühne, indem er in das Modephänomen ein engmaschiges Netz diskursi-
ver Komponenten senkt. Auf dem Millimeterpapier der Mentalitäten versucht
Brecht, Boxen als eine Art Code zu etablieren, der die Symbole und Zeichen
der Zeit – die diskursiven Verzahnungen von körper-, sozial- und wertökono-
mischen Ensembles – miteinander kommunizieren lässt: Als einer der wenigen
Autoren seiner Epoche transferiert Brecht die mit Boxen diskursiv verbunde-
nen Koppelungsverhältnisse körper- und sozialkultureller Ökonomien in die
Erzählliteratur. Dabei belässt er der Boxerfigur ihre Ambivalenzen: Es ist für
den Autor – am Antibürgerlichen wie am Provokanten gleichermaßen interes-
siert – von entscheidendem Vorteil, dass die Athleten habituell mit Attributen
des Antibourgeoisen behängt sind. Seine Kritik an dem Sport, in die Brecht
Formen von Geschäftemacherei, Sportprofessionalismus und Mediensportge-
schichte einbezieht, gipfelt in der Ăśberlegung, Boxen sei nicht mehr imstande,
spezifische Daseinstechniken zu vermitteln. Brechts Interesse gilt weniger der
Durchformung des Menschen durch Drill und Effizienzdenken; den Trainings-
hallen der Boxer bleibt er – zumindest in seinem Schreiben – fern. Er betrach-
tet Sport als eine komplexe Organisationsform des Sozialen, in die spezifische
wirtschaftliche, soziale, klassenkämpferische, prestigemäßige und massenmäch-
tige Diskurs- und Wissensformen hineinspielen. Dabei faszinieren Brecht die
durch Boxen exemplifizierten Formen atavistischer Selbstsouveränität ebenso
398 | Zusammenfassung
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂĽberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂĽckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440