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440 Reinhard Blänkner
verkürzend der sog. „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung“ zugeordnet, hat umge-
kehrt Hans-Ulrich Wehler die pointierte These vertreten, Brunnner sei aus dem Kreis
der früheren völkisch-nationalsozialistischen Historiker zwar „der intellektuell einfluß-
reichste“ gewesen, habe jedoch im Unterschied zu Theodor Schieder oder Werner Conze,
denen Wehler „reflexive Lernbereitschaft“ attestiert, seine Auffassungen „nach 1945 nie
korrigiert“ und sei ein „unverbesserlicher Nazi“ geblieben6. Einen Nachweis für diese
Behauptung hat Wehler nicht erbracht, ebenso wie umgekehrt sich bagatellisierende Ent-
lastungsargumente durch jüngere Forschungen zur völkischen und nationalsozialistischen
Geschichtswissenschaft7 sowie über die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften8, in
deren institutionelles Netzwerk Brunner frühzeitig und nicht zuletzt in seiner seit 1939
ausgeübten Funktion als Leiter der SODFG prominent eingebunden war, als unhaltbar
erwiesen haben.
Die hier lediglich durch fragwürdige Extrempositionen apologetischer oder denunzi-
atorischer Behauptungen angedeutete Konstellation prägt die bis heute andauernde De-
batte über Brunner, die jedoch auf der Grundlage einer bemerkenswert schmalen und
selektiven Berücksichtigung seines Gesamtwerks geführt wird und schon darum nicht
selten eher den Charakter eines polemischen Meinungskampfes als den Versuch eines wis-
senschaftlich fundierten Urteils in der Sache annimmt. Umso gewichtiger erscheint vor
diesem Hintergrund die Auffassung des 1933 aus Deutschland emigrierten liberalen Brun-
ner-Kritikers und mit Brunner konkurrierenden Protagonisten der Sozialgeschichte Hans
Rosenberg (1904–1988), der 1972 gleichsam im Rückblick auf diese Historikergeneration
schrieb, dass Brunner „einer der allerbedeutendsten Historiker unseres Jahrhunderts“9 sei.
6 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Nationalsozialismus und Historiker, in : Deutsche Historiker im Nationalsozialis-
mus, hg. v. Winfried Schulze, Otto Gerhard Oexle (Frankfurt/M 1999) 306–339, insbes. 334 ; Interview
mit Hans-Ulrich Wehler, in : Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, hg.
v. Rüdiger Hohls, Konrad Jarausch (München 2000) 240–266, insbes. 257f. Ähnlich zuvor bereits Robert
Jütte, Zwischen Ständestaat und Austrofaschismus. Der Beitrag Otto Brunners zur Geschichtsschreibung,
in : Jb. des Instituts für deutsche Geschichte 13 (Tel Aviv 1984) 237–262, insbes. 239.
7 Karen Schönwälder, Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus (Historische Studien 9, Frankfurt
a.M./New York 1992) ; Willi OBerkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideolo-
gisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
101, Göttingen 1993) ; Deutsche Historiker (wie Anm. 6) ; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus.
Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten (Göttingen 2000).
8 Michael FahlBusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik ? Die „Volksdeutschen For-
schungsgemeinschaften“ von 1931 bis 1945 (Baden-Baden 1999) ; Ders., Die „Südostdeutsche Forschungs-
gemeinschaft“. Politische Beratung und NS-Volkstumspolitik, in : Deutsche Historiker (wie Anm. 6) 241–
264 ; Willi OBerkrome, Geschichte, Volk und Theorie. Das „Handwörterbuch des Grenz- und Auslands-
deutschtums“, in : Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft, hg. v. Peter Schöttler (Frankfurt/M
1997) 104–127.
9 Hans RosenBerg, Brief an Dietrich Gerhard vom 11.07.1972. BAK, NL Hans Rosenberg, Sign : N 1376/46.
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Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 3
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 630
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625