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462 Reinhard Blänkner
Drei Aspekte dieser kritischen Bilanz, mit der Brunner sich unter den Wiener Histo-
rikern profilierte, verdienen, hier besonders hervorgehoben zu werden. Zum einen wer-
den Bruchlinien innerhalb der Historiker der Wiener Schule der Geschichtswissenschaft
deutlich angesprochen, etwa mit Blick auf Alfons Dopsch, an dessen ebenfalls 1938 er-
schienener Festschrift die Gruppe um Hirsch, Srbik, Bauer und Brunner sich nicht betei-
ligte96. Sodann die scharfe antipositivistische Polemik, die auch Brunners sonstige Schrif-
ten dieser Jahre durchzieht und hier in den weiter ausgreifenden, historisch-politischen
Kontext der habsburgisch-österreichischen Monarchie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
gestellt wird. Schließlich der im Titel des Aufsatzes ostentativ angesprochene Bezug auf
die „deutsche“ Geschichtswissenschaft, zu der die Wiener Historiker nie den Kontakt
verloren haben. Dies bedarf auf den ersten Blick keiner besonderen Erwähnung, denn die
österreichischen Historiker waren spätestens seit Gründung des deutschen Historikertags
1893 Teil des institutionellen Gefüges der deutschen Geschichtswissenschaft und grün-
deten erst 1949 einen eigenen „Verband österreichischer Geschichtsvereine“97. Brunners
Hinweis erhält seine Brisanz erst durch den engen Kontakt, den die österreichischen –
insbesondere die Wiener – Historiker zur deutschen Geschichtswissenschaft auch nach
der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland 1933 und dem nationalso-
zialistischen Umbau der deutschen Wissenschaftslandschaft hielten und intensivierten.
Erst hierdurch geriet die Strömung der „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung“ ins Ein-
flussfeld des Nationalsozialismus, mit dem sie in ihren anfänglichen Problemstellungen
durchaus nicht auf einer Linie lag. Aufgrund dieser komplexen Kontinuität hatten die
Historiker der Wiener Schule der Geschichtswissenschaft den „Anschluss“ an das natio-
nalsozialistische Deutschland mental und intellektuell bereits vor 1938 vollzogen98. Es ist
96 Siehe Wirtschaft und Kultur. FS zum 70. Geburtstag von Alfons Dopsch, hg. v. Gian Piero Bognetti u. a.
(Baden b. Wien 1938).
97 Siehe hierzu Günter Fellner, Die österreichische Geschichtswissenschaft vom „Anschluß“ zum Wiederauf-
bau, in : Kontinuität und Bruch. 1938–1945–1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und Wissenschafts-
geschichte, hg. v. Friedrich Stadler (Wien/München 1988) 135–155, insbes. 136f.; Monika Glettler, Die
Bewertung des Faktors Deutschland in der österreichischen Historiographie, in : Ungleiche Partner ? Öster-
reich und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Michael Gehler, Rainer F. Schmidt, Harm-Hin-
rich Brandt, Rolf Steininger (Stuttgart 1996) 55–72. Allgemein zur den deutsch-österreichischen Wissen-
schaftsbeziehungen in der Zwischenkriegszeit siehe Silke Fengler, Günther LuxBacher, „Aufrechterhaltung
der gemeinsamem Kultur.“ Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Österreichische-Deutsche Wissen-
schaftshilfe in der Zwischenkriegszeit, in : Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 34 (2011) 303–328.
98 Siehe hierzu : Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum, hg. v. Josef Nadler, Heinrich Ritter v. SrBik
(Salzburg 1936) ; Gesamtdeutsche Vergangenheit. FS für Heinrich Ritter v. Srbik, hg. v. Wilhelm Bauer, Lud-
wig Bittner, Taras v. Borodajkewycz, Otto Brunner, Wilhelm Deutsch, Lothar Gross, Hans Hirsch,
Reinhold Lorenz (München 1938) ; Herbert Dachs, Österreichische Geschichtswissenschaft und Anschluß
1918–1930 (Wien/Salzburg 1974) ; Fellner, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 96) 135–147. Siehe auch
Heiss, Vergangenheit (wie Anm. 58), und Ders., „Wiener Schule der Geschichtswissenschaft“ (ebd.).
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Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 3
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 630
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625