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470 Reinhard Blänkner
Für das Verständnis von Brunners Begriff des „Landes“ reicht somit ein Blick auf des-
sen Ort in der zeitgenössischen landesgeschichtlichen Mediävistik nicht aus. Vielmehr
verwendet Brunner „Verband, „Landvolk“ und „Fehde“ als systematische Gegenbegriffe
zu den drei Elementen „Staatsgebiet“, „Staatsvolk“ und „Staatsgewalt“ der juristischen
Allgemeinen Staatslehre133. Vor allem in der kritischen Auseinandersetzung mit ihr, den
hieran anknüpfenden soziologischen und historischen Staatstheorien insbesondere Max
Webers, Georg von Belows und Otto Hintzes hat Brunner seinen Land-Begriff konstru-
iert. Zentrale Aspekte dieses neuen Konzepts hatte Brunner bereits formuliert, bevor er
dieses ordnungstheoretisch zu fundieren suchte.
Anknüpfungspunkte hierzu boten ihm vor allem die „Volkssoziologie“, wie sie insbe-
sondere von Hans Freyer vertreten wurde134, sowie das „konkrete Ordnungsdenken“ Carl
Schmitts135. Frühere Schriften beider Autoren hatte Brunner bereits zuvor rezipiert, die
Wendung zur Volkssoziologie bzw. zum konkreten Rechtsdenken nach 1933 markiert
jedoch eine explizite Wendung beider zum Nationalsozialismus, die auch Brunner seit
Mitte der 1930er Jahre vollzieht. Verbunden ist hiermit die Wendung zu einem totalisie-
renden Denkstil, der sozialtheoretisch gegen die Interdependenzanalysen der modernen
Welt136 sowie polemisch gegen den „liberalen Rechtsstaat“137 gerichtet ist und in die to-
talitäre Ideologie einer homogenen politisch-sozialen Ordnung, die nationalsozialistische
„Volksgemeinschaft“, führt.
133 Vgl. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre (Berlin 31921) 394–434.
134 Siehe Hans Freyer, Volkwerdung. Gedanken über den Standort und über die Aufgaben der Soziologie, in :
Volksspiegel 1 (1934) 3–9 ; Ders., Gegenwartsaufgaben der Soziologie, in : Zs. für die gesamte Staatswis-
senschaft 95 (1935) 116–144. Zu Freyer siehe Jerry Z. Muller, The Other God that failed. Hans Freyer
and the Deradicalisation of German Conservatism (Princeton 1987) 122–185, 267–278 ; OBerkrome,
Volksgeschichte (wie Anm. 7) 111–116 ; Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstent-
wurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert (München 2000) 127–159. Siehe generell auch Otthein
Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933–1945. Die Normalität einer Anpassung (Frankfurt/M 1986) 1986,
insbes. 25–69 ; Carsten Klingemann, Soziologie im Dritten Reich (Baden-Baden 1996) insbes. 171–216.
135 Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (Hamburg 1934) 11–24, 65–67.
Zu Brunners Aufnahme der Schmittschen konkreten Ordnungsbegrifflichkeit siehe, wenngleich mit fragwür-
digen und irreführenden Auslegungen Algazi, Herrengewalt (wie Anm. 118) insbes. 97–127 ; Ders., Otto
Brunner (wie Anm. 118) 171–177. Nicht minder fragwürdig Hans-Henning Kortüm, „Wissenschaft im
Doppelpaß“ ? Carl Schmitt, Otto Brunner und die Konstruktion der Fehde, in : HZ 282 (2006) 585–617.
Zum Verhältnis Brunner-Schmitt siehe auch Hasso Hofmann, Feindschaft – Grundbegriff des Politischen ?,
in : ders., Recht – Politik – Verfassung. Studien zur Geschichte der politischen Philosophie (Frankfurt/M
1986) 212–241, insbes. 215–220 (Erstdruck 1965) ; Quaritsch, Otto Brunner (wie Anm. 10) 836–841.
136 Zur Kritik vor allem an Karl Mannheims Interdependenzdenken siehe Brunner, Verfassungsbegriff (wie
Anm. 1) 515.
137 Vgl. ebd. 528.
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Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 3
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 630
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625