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Otto Brunner (1898–1982) 471
„Volksgemeinschaft“, deren „Erlebnis“ Brunner beschwört, gilt für ihn neben „Füh-
rung“ als einer der beiden „zentralen Verfassungsbegriffe“ der neuen Ordnung des Na-
tionalsozialismus138. Beide politische Leitideologeme bilden zugleich die kategoriale
Klammer, die die jenseits der politisch-sozialen Trennung zwischen „Staat und Gesell-
schaft“ situierte nationalsozialistische Gegenwart mit jener des Mittelalters verbindet.
„Nur durch das Land“, so Brunner, „gibt es Landvolk, Volk im Verfassungssinn, aktive
Teilhabe am öffentlichen Leben. Liegt im Königtum und dann bei den Landesherren die
politische ‚Führung‘, so ist ‚Land‘ eine ältere Form der ‚Volksgemeinschaft‘“139. Gegen
den möglichen Einwand einer Rückprojektion von Gegenwartsbegriffen zur Analyse ver-
gangener politisch-sozialer Ordnungen, die Brunner der bisherigen positivistischen und
liberalen Forschung vorgeworfen hatte, hebt er hervor, dass „wir uns voll bewußt“ sind,
„daß konkrete politische Begriffe der Gegenwart nicht einfach verallgemeinert und in
die Vergangenheit übertragen werden dürfen, wenn sie ihren eigentlichen Sinn behalten
sollen. Zudem beruht die gegenwärtige politische Grundordnung des deutschen Volkes
nicht auf einem ungebrochenen Zusammenhang mit älteren Institutionen, sondern ist in
der Bewältigung der seit dem 19. Jahrhundert gestellten Aufgaben neu geschaffen worden.
Wenn sich in ihr germanische Grundgedanken entfalten, so nicht aus einer Überlieferung
äußerer Formen, […] sondern weil es ein deutsches Volk im echten Sinne des Wortes gab,
das sich aus seinem Wesen heraus eine neue Ordnung des Daseins geben konnte“140.
Das hier vor allem in Auseinandersetzung mit den Schriften von Otto Höfler disku-
tierte Problem der „germanischen Kontinuität“ nimmt in „Land und Herrschaft“ einen
zentralen argumentativen Platz ein. „Das Wesen von Land und Herrschaft“, so Brunner,
„kann trotz tiefgreifender Wandlungen nur aus germanischen Wurzeln verstanden wer-
den“. Dabei geht es ihm nicht um den Nachweis einer „Kontinuität bestimmter Gruppen
oder Institutionen, die kaum irgendwo nachzuweisen ist, sondern um die Tatsache, daß
alle grundlegenden Verfassungsformen des europäischen Mittelalters, sofern sie nicht der
kirchlichen Sphäre angehören, nur aus germanischen Wurzeln verstanden werden kön-
nen“. Angesichts des „tiefen Grabens, den das 19. Jahrhundert“ bedeute, sei dies das
„Entscheidende. Nicht um die einzelnen Einrichtungen und Rechtsinstitute geht es uns,
sondern um das deutsche Volk und seine Volksordnung bestimmenden Grundgedanken.“
Von diesem Ausgangspunkt her müsse „die Arbeit an einer germanischen Verfassungsge-
schichte neu aufgenommen werden“, in der der „vielleicht wirksamste Faktor […] die ger-
manische Treue (ist), die uns heute nicht minder wesenhaft ist, wie sie alle älteren Gebilde
durchdringt“. Es sei, so Brunner abschließend, „zu fragen“, ob und „wie weit germanische
138 Vgl. ebd. 517 ; Ders., Land und Herrschaft (wie Anm. 2) 512.
139 Ders., Land und Herrschaft (1943) (wie Anm. 2) 523.
140 Ebd.
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 3
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 630
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625