Seite - 11 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Bild der Seite - 11 -
Text der Seite - 11 -
einem Zeitalter der Vernunft.
Dieses Gefühl der Sicherheit war der erstrebenswerteste Besitz von
Millionen, das gemeinsame Lebensideal. Nur mit dieser Sicherheit galt das
Leben als lebenswert, und immer weitere Kreise begehrten ihren Teil an
diesem kostbaren Gut. Erst waren es nur die Besitzenden, die sich dieses
Vorzugs erfreuten, allmählich aber drängten die breiten Massen heran; das
Jahrhundert der Sicherheit wurde das goldene Zeitalter des
Versicherungswesens. Man assekurierte sein Haus gegen Feuer und Einbruch,
sein Feld gegen Hagel und Wetterschaden, seinen Körper gegen Unfall und
Krankheit, man kaufte sich Leibrenten für das Alter und legte den Mädchen
eine Police in die Wiege für die künftige Mitgift. Schließlich organisierten
sich sogar die Arbeiter, eroberten sich einen normalisierten Lohn und
Krankenkassen, Dienstboten sparten sich eine Altersversicherung und zahlten
im voraus ein in die Sterbekasse für ihr eigenes Begräbnis. Nur wer sorglos
in die Zukunft blicken konnte, genoß mit gutem Gefühl die Gegenwart.
In diesem rührenden Vertrauen, sein Leben bis auf die letzte Lücke
verpalisadieren zu können gegen jeden Einbruch des Schicksals, lag trotz aller
Solidität und Bescheidenheit der Lebensauffassung eine große und
gefährliche Hoffart. Das neunzehnte Jahrhundert war in seinem
liberalistischen Idealismus ehrlich überzeugt, auf dem geraden und
unfehlbaren Weg zur ›besten aller Welten‹ zu sein. Mit Verachtung blickte
man auf die früheren Epochen mit ihren Kriegen, Hungersnöten und Revolten
herab als auf eine Zeit, da die Menschheit eben noch unmündig und nicht
genug aufgeklärt gewesen. Jetzt aber war es doch nur eine Angelegenheit von
Jahrzehnten, bis das letzte Böse und Gewalttätige endgültig überwunden sein
würde, und dieser Glaube an den ununterbrochenen, unaufhaltsamen
›Fortschritt‹ hatte für jenes Zeitalter wahrhaftig die Kraft einer Religion; man
glaubte an diesen ›Fortschritt‹ schon mehr als an die Bibel, und sein
Evangelium schien unumstößlich bewiesen durch die täglich neuen Wunder
der Wissenschaft und der Technik. In der Tat wurde ein allgemeiner Aufstieg
zu Ende dieses friedlichen Jahrhunderts immer sichtbarer, immer
geschwinder, immer vielfältiger. Auf den Straßen flammten des Nachts statt
der trüben Lichter elektrische Lampen, die Geschäfte trugen von den
Hauptstraßen ihren verführerischen neuen Glanz bis in die Vorstädte, schon
konnte dank des Telephons der Mensch zum Menschen in die Ferne sprechen,
schon flog er dahin im pferdelosen Wagen mit neuen Geschwindigkeiten,
schon schwang er sich empor in die Lüfte im erfüllten Ikarustraum. Der
Komfort drang aus den vornehmen Häusern in die bürgerlichen, nicht mehr
mußte das Wasser vom Brunnen oder Gang geholt werden, nicht mehr
mühsam am Herd das Feuer entzündet, die Hygiene verbreitete sich,
der Schmutz verschwand. Die Menschen wurden schöner, kräftiger, gesünder,
11
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286