Seite - 12 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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seit der Sport ihnen die Körper stählte, immer seltener sah man Verkrüppelte,
Kropfige, Verstümmelte auf den Straßen, und alle diese Wunder hatte die
Wissenschaft vollbracht, dieser Erzengel des Fortschritts. Auch im Sozialen
ging es voran; von Jahr zu Jahr wurden dem Individuum neue Rechte
gegeben, die Justiz linder und humaner gehandhabt, und selbst das Problem
der Probleme, die Armut der großen Massen, schien nicht mehr
unüberwindlich. Immer weiteren Kreisen gewährte man das Wahlrecht und
damit die Möglichkeit, legal ihre Interessen zu verteidigen, Soziologen und
Professoren wetteiferten, die Lebenshaltung des Proletariats gesünder und
sogar glücklicher zu gestalten – was Wunder darum, wenn dieses Jahrhundert
sich an seiner eigenen Leistung sonnte und jedes beendete Jahrzehnt nur als
die Vorstufe eines besseren empfand? An barbarische Rückfälle, wie Kriege
zwischen den Völkern Europas, glaubte man so wenig wie an Hexen und
Gespenster; beharrlich waren unsere Väter durchdrungen von dem Vertrauen
auf die unfehlbar bindende Kraft von Toleranz und Konzilianz. Redlich
meinten sie, die Grenzen von Divergenzen zwischen den Nationen und
Konfessionen würden allmählich zerfließen ins gemeinsame Humane und
damit Friede und Sicherheit, diese höchsten Güter, der ganzen Menschheit
zugeteilt sein.
Es ist billig für uns heute, die wir das Wort ›Sicherheit‹ längst als ein
Phantom aus unserem Vokabular gestrichen haben, den optimistischen Wahn
jener idealistisch verblendeten Generation zu belächeln, der technische
Fortschritt der Menschheit müsse unbedingterweise einen gleich rapiden
moralischen Aufstieg zur Folge haben. Wir, die wir im neuen Jahrhundert
gelernt haben, von keinem Ausbruch kollektiver Bestialität uns mehr
überraschen zu lassen, wir, die wir von jedem kommenden Tag noch
Ruchloseres erwarteten als von dem vergangenen, sind bedeutend skeptischer
hinsichtlich einer moralischen Erziehbarkeit der Menschen. Wir mußten
Freud recht geben, wenn er in unserer Kultur, unserer Zivilisation nur eine
dünne Schicht sah, die jeden Augenblick von den destruktiven Kräften der
Unterwelt durchstoßen werden kann, wir haben allmählich uns gewöhnen
müssen, ohne Boden unter unseren Füßen zu leben, ohne Recht, ohne
Freiheit, ohne Sicherheit. Längst haben wir für unsere eigene Existenz der
Religion unserer Väter, ihrem Glauben an einen raschen und andauernden
Aufstieg der Humanität abgesagt; banal scheint uns grausam Belehrten jener
voreilige Optimismus angesichts einer Katastrophe, die mit einem einzigen
Stoß uns um tausend Jahre humaner Bemühungen zurückgeworfen hat. Aber
wenn auch nur Wahn, so war es doch ein wundervoller und edler Wahn, dem
unsere Väter dienten, menschlicher und fruchtbarer als die Parolen von heute.
Und etwas in mir kann sich geheimnisvollerweise trotz aller Erkenntnis und
Enttäuschung nicht ganz von ihm loslösen. Was ein Mensch in seiner
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286