Seite - 13 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Kindheit aus der Luft der Zeit in sein Blut genommen, bleibt unausscheidbar.
Und trotz allem und allem, was jeder Tag mir in die Ohren schmettert, was
ich selbst und unzählige Schicksalsgenossen an Erniedrigung und Prüfungen
erfahren haben, ich vermag den Glauben meiner Jugend nicht ganz zu
verleugnen, daß es wieder einmal aufwärts gehen wird trotz allem und allem.
Selbst aus dem Abgrund des Grauens, in dem wir heute halb blind
herumtasten mit verstörter und zerbrochener Seele, blicke ich immer wieder
auf zu jenen alten Sternbildern, die über meiner Kindheit glänzten, und tröste
mich mit dem ererbten Vertrauen, daß dieser Rückfall dereinst nur als ein
Intervall erscheinen wird in dem ewigen Rhythmus des Voran und Voran.
Heute, da das große Gewitter sie längst zerschmettert hat, wissen wir
endgültig, daß jene Welt der Sicherheit ein Traumschloß gewesen. Aber doch,
meine Eltern haben darin gewohnt wie in einem steinernen Haus. Kein
einziges Mal ist ein Sturm oder eine scharfe Zugluft in ihre warme,
behagliche Existenz eingebrochen; freilich hatten sie noch einen besonderen
Windschutz: sie waren vermögende Leute, die allmählich reich und sogar sehr
reich wurden, und das polsterte in jenen Zeiten verläßlich Fenster und Wand.
Ihre Lebensform scheint mir dermaßen typisch für das sogenannte ›gute
jüdische Bürgertum‹, das der Wiener Kultur so wesentliche Werte gegeben
hat und zum Dank dafür völlig ausgerottet wurde, daß ich mit dem Bericht
ihres gemächlichen und lautlosen Daseins eigentlich etwas Unpersönliches
erzähle: so wie meine Eltern haben zehntausend oder zwanzigtausend
Familien in Wien gelebt in jenem Jahrhundert der gesicherten Werte.
Die Familie meines Vaters stammte aus Mähren. In kleinen ländlichen
Orten lebten dort die jüdischen Gemeinden in bestem Einvernehmen mit der
Bauernschaft und dem Kleinbürgertum; so fehlte ihnen völlig die
Gedrücktheit und andererseits die geschmeidig vordrängende Ungeduld der
galizischen, der östlichen Juden. Stark und kräftig durch das Leben auf dem
Lande, schritten sie sicher und ruhig ihren Weg wie die Bauern ihrer Heimat
über das Feld. Früh vom orthodox Religiösen emanzipiert, waren sie
leidenschaftliche Anhänger der Zeitreligion des ›Fortschritts‹ und stellten in
der politischen Ära des Liberalismus die geachtetsten Abgeordneten im
Parlament. Wenn sie aus ihrer Heimat nach Wien übersiedelten, paßten sie
sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit der höheren Kultursphäre an, und ihr
persönlicher Aufstieg verband sich organisch dem allgemeinen Aufschwung
der Zeit. Auch in dieser Form des Übergangs war unsere Familie durchaus
typisch. Mein Großvater väterlicherseits hatte Manufakturwaren vertrieben.
Dann begann in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die industrielle
Konjunktur in Österreich. Die aus England importierten mechanischen
Webstühle und Spinnmaschinen brachten durch Rationalisierung eine
ungeheure Verbilligung gegenüber der altgeübten Handweberei, und mit ihrer
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286