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kommerziellen Beobachtungsgabe, ihrem internationalen Überblick waren es
die jüdischen Kaufleute, die als erste in Österreich die Notwendigkeit und
Ergiebigkeit einer Umstellung auf industrielle Produktion erkannten. Sie
gründeten mit meist geringem Kapital jene rasch improvisierten, zunächst nur
mit Wasserkraft betriebenen Fabriken, die sich allmählich zur mächtigen,
ganz Österreich und den Balkan beherrschenden böhmischen Textilindustrie
erweiterten. Während also mein Großvater als typischer Vertreter der früheren
Epoche nur dem Zwischenhandel mit Fertigprodukten gedient, ging mein
Vater schon entschlossen hinüber in die neue Zeit, indem er in Nordböhmen
in seinem dreiunddreißigsten Lebensjahr eine kleine Weberei begründete, die
er dann im Laufe der Jahre langsam und vorsichtig zu einem stattlichen
Unternehmen ausbaute.
Solche vorsichtige Art der Erweiterung trotz einer verlockend günstigen
Konjunktur lag durchaus im Sinne der Zeit. Sie entsprach außerdem noch
besonders der zurückhaltenden und durchaus ungierigen Natur meines Vaters.
Er hatte das Credo seiner Epoche ›Safety first‹ in sich aufgenommen; es war
ihm wesentlicher, ein ›solides‹ – auch dies ein Lieblingswort jener Zeit –
Unternehmen mit eigener Kapitalkraft zu besitzen, als es durch Bankkredite
oder Hypotheken ins Großdimensionale auszubauen. Daß zeitlebens nie
jemand seinen Namen auf einem Schuldschein, einem Wechsel gesehen hatte
und er nur immer auf der Habenseite seiner Bank – selbstverständlich der
solidesten, der Rothschildbank, der Kreditanstalt – gestanden, war sein
einziger Lebensstolz. Jeglicher Verdienst mit auch nur dem leisesten Schatten
eines Risikos war ihm zuwider, und durch all seine Jahre beteiligte er sich
niemals an einem fremden Geschäft. Wenn er dennoch allmählich reich und
immer reicher wurde, hatte er dies keineswegs verwegenen Spekulationen
oder besonders weitsichtigen Operationen zu danken, sondern der Anpassung
an die allgemeine Methode jener vorsichtigen Zeit, immer nur einen
bescheidenen Teil des Einkommens zu verbrauchen und demzufolge von Jahr
zu Jahr einen immer beträchtlicheren Betrag dem Kapital zuzulegen. Wie die
meisten seiner Generation hätte mein Vater jemanden schon als bedenklichen
Verschwender betrachtet, der unbesorgt die Hälfte seiner Einkünfte aufzehrte,
ohne – auch dies ein ständiges Wort aus jenem Zeitalter der Sicherheit – ›an
die Zukunft zu denken‹. Dank diesem ständigen Zurücklegen der Gewinne
bedeutete in jener Epoche steigender Prosperität, wo überdies der Staat nicht
daran dachte, auch von den stattlichsten Einkommen mehr als ein paar
Prozent an Steuern abzuknappen und andererseits die Staats- und
Industriewerte hohe Verzinsung brachten, für den Vermögenden das Immer-
reicher-Werden eigentlich nur eine passive Leistung. Und sie lohnte sich;
noch wurde nicht wie in den Zeiten der Inflation der Sparsame bestohlen, der
Solide geprellt, und gerade die Geduldigsten, die Nichtspekulanten hatten den
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286