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besten Gewinn. Dank dieser Anpassung an das allgemeine System seiner Zeit
konnte mein Vater schon in seinem fünfzigsten Jahre auch nach
internationalen Begriffen als sehr vermögender Mann gelten. Aber nur sehr
zögernd folgte die Lebenshaltung unserer Familie dem immer rascheren
Anstieg des Vermögens nach. Man legte sich allmählich kleine
Bequemlichkeiten zu, wir übersiedelten aus einer kleinen Wohnung in eine
größere, man hielt sich im Frühjahr für die Nachmittage einen Mietswagen,
reiste zweiter Klasse mit Schlafwagen, aber erst in seinem fünfzigsten Jahr
gönnte sich mein Vater zum erstenmal den Luxus, mit meiner Mutter für
einen Monat im Winter nach Nizza zu fahren. Im ganzen blieb die
Grundhaltung, Reichtum zu genießen, indem man ihn hatte und nicht indem
man ihn zeigte, völlig unverändert; noch als Millionär hat mein Vater noch nie
eine Importe geraucht, sondern – wie Kaiser Franz Joseph seine billige
Virginia – die einfache ärarische Trabuco, und wenn er Karten spielte,
geschah es immer nur um kleine Einsätze. Unbeugsam hielt er an seiner
Zurückhaltung, seinem behaglichen, aber diskreten Leben fest. Obwohl
ungleich repräsentabler und gebildeter als die meisten seiner Kollegen – er
spielte ausgezeichnet Klavier, schrieb klar und gut, sprach Französisch und
Englisch – hat er beharrlich sich jeder Ehre und jedem Ehrenamt verweigert,
zeitlebens keinen Titel, keine Würde angestrebt oder angenommen, wie sie
ihm oft in seiner Stellung als Großindustrieller angeboten wurde. Niemals
jemanden um etwas gebeten zu haben, niemals zu ›bitte‹ oder ›danke‹
verpflichtet gewesen zu sein, dieser geheime Stolz bedeutete ihm mehr als
jede Äußerlichkeit.
Nun kommt im Leben eines jedweden unweigerlich die Zeit, da er im Bilde
seines Wesens dem eigenen Vater wiederbegegnet. Jener Wesenszug zum
Privaten, zum Anonymen der Lebenshaltung beginnt sich in mir jetzt von Jahr
zu Jahr stärker zu entwickeln, so sehr er eigentlich im Widerspruch steht zu
meinem Beruf, der Name und Person gewissermaßen zwanghaft publik
macht. Aber aus dem gleichen geheimen Stolz habe ich seit je jede Form
äußerer Ehrung abgelehnt, keinen Orden, keinen Titel, keine Präsidentschaft
in irgendeinem Vereine angenommen, nie einer Akademie, einem Vorstand,
einer Jury angehört; selbst an einer festlichen Tafel zu sitzen ist mir eine Qual,
und schon der Gedanke, jemanden um etwas anzusprechen, trocknet mir –
selbst wenn meine Bitte einem Dritten gelten soll – die Lippe schon vor dem
ersten Wort. Ich weiß, wie unzeitgemäß derlei Hemmungen sind in einer
Welt, wo man nur frei bleiben kann durch List und Flucht, und wo, wie Vater
Goethe weise sagte, ›Orden und Titel manchen Puff abhalten im Gedränge‹.
Aber es ist mein Vater in mir und sein heimlicher Stolz, der mich
zurückzwingt, und ich darf ihm nicht Widerstand leisten; denn ihm danke ich,
was ich vielleicht als meinen einzig sicheren Besitz empfinde: das Gefühl der
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286