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inneren Freiheit.
Meine Mutter, die mit ihrem Mädchennamen Brettauer hieß, war von einer
anderen, einer internationalen Herkunft. Sie war in Ancona, im südlichen
Italien geboren und Italienisch ebenso ihre Kindheitssprache wie Deutsch;
immer wenn sie mit meiner Großmutter oder ihrer Schwester etwas besprach,
was die Dienstboten nicht verstehen sollten, schaltete sie auf Italienisch um.
Risotto und die damals noch seltenen Artischocken sowie die andern
Besonderheiten der südlichen Küche waren mir schon von frühester Jugend
an vertraut, und wann immer ich später nach Italien kam, fühlte ich mich von
der ersten Stunde zu Hause. Aber die Familie meiner Mutter war keineswegs
italienisch, sondern bewußt international; die Brettauers, die ursprünglich ein
Bankgeschäft besaßen, hatten sich – nach dem Vorbild der großen jüdischen
Bankiersfamilien, aber natürlich in viel winzigeren Dimensionen – von
Hohenems, einem kleinen Ort an der Schweizer Grenze, frühzeitig über die
Welt verteilt. Die einen gingen nach St. Gallen, die andern nach Wien und
Paris, mein Großvater nach Italien, ein Onkel nach New York, und dieser
internationale Kontakt verlieh ihnen besseren Schliff, größeren Ausblick und
dazu einen gewissen Familienhochmut. Es gab in dieser Familie keine kleinen
Kaufleute, keine Makler mehr, sondern nur Bankiers, Direktoren,
Professoren, Advokaten und Ärzte, jeder sprach mehrere Sprachen, und ich
erinnere mich, mit welcher Selbstverständlichkeit man bei meiner Tante in
Paris bei Tisch von der einen zur andern hinüberwechselte. Es war eine
Familie, die sorgsam ›auf sich hielt‹, und wenn ein junges Mädchen aus der
ärmeren Verwandtschaft heiratsreif wurde, steuerte die ganze Familie eine
stattliche Mitgift zusammen, nur um zu verhindern, daß sie ›nach unten‹
heirate. Mein Vater wurde als Großindustrieller zwar respektiert, aber meine
Mutter, obwohl in der glücklichsten Ehe mit ihm verbunden, hätte nie
geduldet, daß sich seine Verwandten mit den ihren auf eine Linie gestellt
hätten. Dieser Stolz, aus einer ›guten‹ Familie zu stammen, war bei allen
Brettauers unausrottbar, und wenn in späteren Jahren einer von ihnen mir sein
besonderes Wohlwollen bezeigen wollte, äußerte er herablassend: »Du bist
doch eigentlich ein rechter Brettauer«, als ob er damit anerkennend sagen
wollte: »Du bist doch auf die rechte Seite gefallen.«
Diese Art Adel, den sich manche jüdische Familie aus eigener
Machtvollkommenheit zulegte, hat mich und meinen Bruder schon als Kinder
bald amüsiert und bald verärgert. Immer bekamen wir zu hören, daß dies
›feine‹ Leute seien und jene ›unfeine‹, bei jedem Freunde wurde
nachgeforscht, ob er aus ›guter‹ Familie sei und bis ins letzte Glied Herkunft
sowohl der Verwandtschaft als des Vermögens überprüft. Dieses ständige
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286