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zubilligt; sie meint ein Judentum, das sich von allen Defekten und Engheiten
und Kleinlichkeiten, die das Ghetto ihm aufgezwungen, durch Anpassung an
eine andere Kultur und womöglich eine universale Kultur befreit hat oder zu
befreien beginnt. Daß diese Flucht ins Geistige durch eine unproportionierte
Überfüllung der intellektuellen Berufe dem Judentum dann ebenso
verhängnisvoll geworden ist wie vordem seine Einschränkung ins Materielle,
gehört freilich zu den ewigen Paradoxien des jüdischen Schicksals.
In kaum einer Stadt Europas war nun der Drang zum Kulturellen so
leidenschaftlich wie in Wien. Gerade weil die Monarchie, weil Österreich seit
Jahrhunderten weder politisch ambitioniert noch in seinen militärischen
Aktionen besonders erfolgreich gewesen, hatte sich der heimatliche Stolz am
stärksten dem Wunsche einer künstlerischen Vorherrschaft zugewandt. Von
dem alten Habsburgerreich, das einmal Europa beherrscht, waren längst
wichtigste und wertvollste Provinzen abgefallen, deutsche und italienische,
flandrische und wallonische; unversehrt in ihrem alten Glanz war die
Hauptstadt geblieben, der Hort des Hofes, die Wahrerin einer tausendjährigen
Tradition. Die Römer hatten die ersten Steine dieser Stadt aufgerichtet, als ein
Castrum, als vorgeschobenen Posten, um die lateinische Zivilisation zu
schützen gegen die Barbaren, und mehr als tausend Jahre später war der
Ansturm der Osmanen gegen das Abendland an diesen Mauern zerschellt.
Hier waren die Nibelungen gefahren, hier hat das unsterbliche Siebengestirn
der Musik über die Welt geleuchtet, Gluck, Haydn und Mozart, Beethoven,
Schubert, Brahms und Johann Strauß, hier waren alle Ströme europäischer
Kultur zusammengeflossen; am Hof, im Adel, im Volk war das Deutsche dem
Slavischen, dem Ungarischen, dem Spanischen, dem Italienischen, dem
Französischen, dem Flandrischen im Blute verbunden, und es war das
eigentliche Genie dieser Stadt der Musik, alle diese Kontraste harmonisch
aufzulösen in ein Neues und Eigenartiges, in das Österreichische, in das
Wienerische. Aufnahmewillig und mit einem besonderen Sinn für
Empfänglichkeit begabt, zog diese Stadt die disparatesten Kräfte an sich,
entspannte, lockerte, begütigte sie; es war lind, hier zu leben, in dieser
Atmosphäre geistiger Konzilianz, und unbewußt wurde jeder Bürger dieser
Stadt zum Übernationalen, zum Kosmopolitischen, zum Weltbürger erzogen.
Diese Kunst der Angleichung, der zarten und musikalischen Übergänge, sie
ward schon offenbar im äußern Gebilde der Stadt. In Jahrhunderten langsam
gewachsen, aus innerem Kreise organisch entfaltet, war sie volkreich genug
mit ihren zwei Millionen, um allen Luxus und alle Vielfalt einer Großstadt zu
gewähren, und doch nicht so überdimensional, um abgelöst zu sein von der
Natur wie London oder New York. Die letzten Häuser der Stadt spiegelten
sich im mächtigen Strome der Donau oder sahen hinaus über die weite Ebene
oder lösten sich auf in Gärten und Felder oder klommen in sachten Hügeln
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286