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des Respekts umwölkte wie ein Heiligenschein alles, was mit dem Hoftheater
auch nur in entferntester Beziehung stand. Der Ministerpräsident, der reichste
Magnat konnte in Wien durch die Straßen gehen, ohne daß jemand sich
umwandte; aber ein Hofschauspieler, eine Opernsängerin erkannte jede
Verkäuferin und jeder Fiaker; stolz erzählten wir Knaben es uns einander,
wenn wir einen von ihnen (deren Bilder, deren Autographen jeder sammelte)
im Vorübergehen gesehen, und dieser fast religiöse Personenkult ging so weit,
daß er sich sogar auf seine Umwelt übertrug; der Friseur Sonnenthals, der
Fiaker von Josef Kainz waren Respektspersonen, die man heimlich beneidete;
junge Elegants waren stolz, von demselben Schneider gekleidet zu sein. Jedes
Jubiläum, jedes Begräbnis eines großen Schauspielers wurde zum Ereignis,
das alle politischen Geschehnisse überschattete. Im Burgtheater gespielt zu
werden, war der höchste Traum jedes Wiener Schriftstellers, weil es eine Art
lebenslangen Adels bedeutete und eine Reihe von Ehrungen in sich schloß,
wie Freikarten auf Lebenszeit, Einladung zu allen offiziellen Veranstaltungen;
man war eben Gast in einem kaiserlichen Hause geworden, und ich erinnere
mich noch an die feierliche Art, mit der meine eigene Einbeziehung geschah.
Am Vormittag hatte mich der Direktor des Burgtheaters zu sich ins Büro
gebeten, um mir – nach zuvorigem Glückwunsch – mitzuteilen, daß mein
Drama vom Burgtheater akzeptiert worden sei; als ich abends nach Hause
kam, fand ich seine Visitenkarte in meiner Wohnung. Er hatte mir, dem
Sechsundzwanzigjährigen, einen formellen Gegenbesuch gemacht, ich war als
Autor der kaiserlichen Bühne schon durch die bloße Annahme ein
›gentleman‹ geworden, den ein Direktor des kaiserlichen Instituts au pair zu
behandeln hatte. Und was im Theater geschah, betraf indirekt jeden einzelnen,
sogar den, der damit gar keinen direkten Zusammenhang hatte. Ich erinnere
mich zum Beispiel aus meiner frühesten Jugend, daß unsere Köchin eines
Tages mit Tränen in den Augen in das Zimmer stürzte: eben habe man ihr
erzählt, Charlotte Wolter – die berühmteste Schauspielerin des Burgtheaters –
sei gestorben. Das Groteske dieser wilden Trauer bestand selbstverständlich
darin, daß diese alte, halb analphabetische Köchin nicht ein einziges Mal
selbst im vornehmen Burgtheater gewesen war und die Wolter nie auf der
Bühne oder im Leben gesehen hatte; aber eine große nationale Schauspielerin
gehörte in Wien so sehr zum Kollektivbesitz der ganzen Stadt, daß selbst der
Unbeteiligte ihren Tod als eine Katastrophe empfand. Jeder Verlust, das
Weggehen eines beliebten Sängers oder Künstlers verwandelte sich
unaufhaltsam in Nationaltrauer. Als das ›alte‹ Burgtheater, in dem Mozarts
›Hochzeit des Figaro‹ zum erstenmal erklungen, demoliert wurde, war die
ganze Wiener Gesellschaft wie bei einem Begräbnis feierlich und ergriffen in
den Räumen versammelt; kaum war der Vorhang gefallen, stürzte jeder auf
die Bühne, um wenigstens einen Splitter von den Brettern, auf denen ihre
geliebten Künstler gewirkt, als Reliquie nach Hause zu bringen, und in
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286