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Dutzenden von Bürgerhäusern sah man noch nach Jahrzehnten diese
unscheinbaren Holzsplitter in kostbarer Kassette bewahrt, wie in den Kirchen
die Splitter des heiligen Kreuzes. Wir selbst handelten nicht viel vernünftiger,
als der sogenannte Bösendorfer Saal niedergerissen wurde.
An sich war dieser kleine Konzertsaal, der ausschließlich der
Kammermusik vorbehalten war, ein ganz unbedeutendes, unkünstlerisches
Bauwerk, die frühere Reitschule des Fürsten Liechtenstein, und nur durch
eine Holzverschalung völlig prunklos zu musikalischen Zwecken adaptiert.
Aber er hatte die Resonanz einer alten Violine, er war den Liebhabern der
Musik geheiligte Stätte, weil Chopin und Brahms, Liszt und Rubinstein darin
konzertiert, weil viele der berühmten Quartette hier zum ersten Male
erklungen. Und nun sollte er einem neuen Zweckbau weichen; es war
unfaßbar für uns, die hier unvergeßliche Stunden erlebt. Als die letzten Takte
Beethovens verklangen, vom Roséquartett herrlicher als jemals gespielt,
verließ keiner seinen Platz. Wir lärmten und applaudierten, einige Frauen
schluchzten vor Erregung, niemand wollte es wahrhaben, daß es ein Abschied
war. Man verlöschte im Saal die Lichter, um uns zu verjagen. Keiner von den
vier- oder fünfhundert der Fanatiker wich von seinem Platz. Eine halbe
Stunde, eine Stunde blieben wir, als ob wir es erzwingen könnten durch
unsere Gegenwart, daß der alte geheiligte Raum gerettet würde. Und wie
haben wir als Studenten mit Petitionen, mit Demonstrationen, mit Aufsätzen
darum gekämpft, daß Beethovens Sterbehaus nicht demoliert würde! Jedes
dieser historischen Häuser in Wien war wie ein Stück Seele, das man uns aus
dem Leibe riß.
Dieser Fanatismus für die Kunst und insbesondere für die theatralische
Kunst ging in Wien durch alle Stände. An sich war Wien durch seine
hundertjährige Tradition eigentlich eine deutlich geschichtete und zugleich –
wie ich einmal schrieb – wunderbar orchestrierte Stadt. Das Pult gehörte noch
immer dem Kaiserhaus. Die kaiserliche Burg war das Zentrum nicht nur im
räumlichen Sinn, sondern auch im kulturellen der Übernationalität der
Monarchie. Um diese Burg bildeten die Palais des österreichischen,
polnischen, tschechischen, ungarischen Hochadels gewissermaßen den
zweiten Wall. Dann kam die ›gute Gesellschaft‹, bestehend aus dem kleineren
Adel, der hohen Beamtenschaft, der Industrie und den ›alten Familien‹,
darunter dann das Kleinbürgertum und das Proletariat. Alle diese Schichten
lebten in ihrem eigenen Kreise und sogar in eigenen Bezirken, der Hochadel
in seinen Palästen im Kern der Stadt, die Diplomatie im dritten Bezirk, die
Industrie und die Kaufmannschaft in der Nähe der Ringstraße, das
Kleinbürgertum in den inneren Bezirken, dem zweiten bis neunten, das
Proletariat in dem äußeren Kreis; alles aber kommunizierte im Theater und
bei den großen Festlichkeiten wie etwa dem Blumenkorso im Prater, wo
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286