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dreimal hunderttausend Menschen die ›oberen Zehntausend‹ begeistert in
ihren wunderbar geschmückten Wagen akklamierten. In Wien wurde alles
zum festlichen Anlaß, was Farbe oder Musik entäußerte, die religiösen
Umzüge wie das Fronleichnamsfest, die Militärparaden, die ›Burgmusik‹;
selbst die Begräbnisse fanden begeisterten Zulauf, und es war der Ehrgeiz
jedes rechten Wieners, eine ›schöne Leich‹ mit prunkvollem Aufzug und
vielen Begleitern zu haben; sogar seinen Tod verwandelte ein richtiger
Wiener noch in eine Schaufreude für die andern. In dieser Empfänglichkeit
für alles Farbige, Klingende, Festliche, in dieser Lust am Schauspielhaften als
Spiel- und Spiegelform des Lebens, gleichgültig ob auf der Bühne oder im
realen Raum, war die ganze Stadt einig.
Über diese ›Theatromanie‹ der Wiener, die wirklich mit ihrer Nachspürerei
nach den winzigsten Lebensumständen ihrer Lieblinge manchmal ins
Groteske ausartete, war zu spotten keineswegs schwer, und unsere
österreichische Indolenz im Politischen, das Zurückbleiben im
Wirtschaftlichen gegenüber dem resoluten deutschen Nachbarreich mag
tatsächlich zum Teil dieser genießerischen Überschätzung zuzuschreiben sein.
Aber kulturell hat diese Überwertung der künstlerischen Geschehnisse etwas
Einzigartiges gezeitigt – eine ungemeine Ehrfurcht vorerst vor jeder
künstlerischen Leistung, dann in ihrer jahrhundertelangen Übung ein
Kennertum ohnegleichen und dank dieses Kennertums wiederum schließlich
ein überragendes Niveau auf allen kulturellen Gebieten. Immer fühlt sich der
Künstler dort am wohlsten und zugleich am angeregtesten, wo er geschätzt
und sogar überschätzt wird. Immer erreicht Kunst dort ihren Gipfel, wo sie
Lebensangelegenheit eines ganzen Volkes wird. Und so wie Florenz, wie
Rom in der Renaissance die Maler an sich heranzog und zur Größe erzog,
weil jeder fühlte, daß er in einem ständigen Wettstreit vor der ganzen
Bürgerschaft die andern und sich selbst ununterbrochen übertreffen mußte, so
wußten auch die Musiker, die Schauspieler in Wien um ihre Wichtigkeit in
der Stadt. In der Wiener Oper, im Wiener Burgtheater wurde nichts
übersehen; jede falsche Note wurde sofort bemerkt, jeder unrichtige Einsatz,
jede Kürzung gerügt, und diese Kontrolle nicht etwa nur bei den Premieren
durch die professionellen Kritiker geübt, sondern Tag für Tag durch das
wachsame und durch ständiges Vergleichen geschärfte Ohr des ganzen
Publikums. Während im Politischen, im Administrativen, in den Sitten alles
ziemlich gemütlich zuging, und man gutmütig gleichgültig war gegen jede
›Schlamperei‹ und nachsichtig gegen jeden Verstoß, gab es in künstlerischen
Dingen keinen Pardon; hier war die Ehre der Stadt im Spiel. Jeder Sänger,
jeder Schauspieler, jeder Musiker mußte ununterbrochen sein Äußerstes
geben, sonst war er verloren. Es war herrlich, in Wien ein Liebling zu sein,
aber es war nicht leicht, Liebling zu bleiben; ein Nachlassen wurde nicht
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286