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Jahrhundert Maria Theresia ihre Töchter von Gluck in Musik unterweisen
ließ, Joseph II. mit Mozart dessen Opern als Kenner diskutierte, Leopold III.
selbst komponierte, hatten die späteren Kaiser Franz II. und
Ferdinand keinerlei Interessen an künstlerischen Dingen mehr, und unser
Kaiser Franz Joseph, der in seinen achtzig Jahren nie ein Buch außer dem
Armeeschematismus gelesen oder auch nur in die Hand genommen, bezeigte
sogar eine ausgesprochene Antipathie gegen Musik. Ebenso hatte der
Hochadel seine einstige Protektorstellung aufgegeben; vorbei waren die
glorreichen Zeiten, da die Esterházys einen Haydn beherbergten, die
Lobkowitz und Kinskys und Waldsteins wetteiferten, in ihren Palästen die
Erstaufführung Beethovens zu haben, wo eine Gräfin Thun sich vor dem
großen Dämon auf die Knie warf, er möge den ›Fidelio‹ nicht von der Oper
zurückziehen. Schon Wagner, Brahms und Johann Strauß oder Hugo Wolf
fanden bei ihnen nicht mehr die geringste Stütze; um die philharmonischen
Konzerte auf der alten Höhe zu erhalten, den Malern, den Bildhauern eine
Existenz zu ermöglichen, mußte das Bürgertum in die Bresche springen, und
es war der Stolz, der Ehrgeiz gerade des jüdischen Bürgertums, daß sie hier in
erster Reihe mittun konnten, den Ruhm der Wiener Kultur im alten Glanz
aufrechtzuerhalten. Sie liebten von je diese Stadt und hatten sich mit innerster
Seele hier eingewohnt, aber erst durch die Liebe zur Wiener Kunst fühlten sie
sich voll heimatberechtigt und wahrhaft Wiener geworden. Im öffentlichen
Leben übten sie sonst eigentlich nur geringen Einfluß aus; der Glanz des
kaiserlichen Hauses stellte jeden privaten Reichtum in den Schatten, die
hohen Stellungen in der Staatsführung waren in ererbten Händen, die
Diplomatie der Aristokratie, die Armee und hohe Beamtenschaft den alten
Familien vorbehalten, und die Juden versuchten auch gar nicht, in diese
privilegierten Kreise ehrgeizig vorzudringen. Mit Taktgefühl respektierten sie
diese traditionellen Vorrechte als selbstverständliche; ich erinnere mich zum
Beispiel, daß mein Vater es sein ganzes Leben lang vermied, bei Sacher
zu speisen, und zwar nicht aus Sparsamkeit – denn die Differenz gegenüber
den anderen großen Hotels war lächerlich gering –, sondern aus jenem
natürlichen Distanzgefühl: es wäre ihm peinlich oder ungehörig erschienen,
neben einem Prinzen Schwarzenberg oder Lobkowitz Tisch an Tisch zu
sitzen. Einzig gegenüber der Kunst fühlten in Wien alle ein gleiches Recht,
weil Liebe und Kunst in Wien als gemeinsame Pflicht galt, und unermeßlich
ist der Anteil, den die jüdische Bourgeoisie durch ihre mithelfende und
fördernde Art an der Wiener Kultur genommen. Sie waren das eigentliche
Publikum, sie füllten die Theater, die Konzerte, sie kauften die Bücher, die
Bilder, sie besuchten die Ausstellungen und wurden mit ihrem beweglicheren,
von Tradition weniger belasteten Verständnis überall die Förderer und
Vorkämpfer alles Neuen. Fast alle großen Kunstsammlungen des neunzehnten
Jahrhunderts waren von ihnen geformt, fast alle künstlerischen Versuche nur
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286