Seite - 25 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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durch sie ermöglicht; ohne das unablässige stimulierende Interesse der
jüdischen Bourgeoisie wäre Wien dank der Indolenz des Hofes, der
Aristokratie und der christlichen Millionäre, die sich lieber Rennställe und
Jagden hielten, als die Kunst zu fördern, in gleichem Maße künstlerisch hinter
Berlin zurückgeblieben wie Österreich politisch hinter dem Deutschen Reich.
Wer in Wien etwas Neues durchsetzen wollte, wer als Gast von außen in Wien
Verständnis und ein Publikum suchte, war auf diese jüdische Bourgeoisie
angewiesen; als ein einziges Mal in der antisemitischen Zeit versucht wurde,
ein sogenanntes ›nationales‹ Theater zu begründen, fanden sich weder die
Autoren ein, noch die Schauspieler, noch ein Publikum; nach wenigen
Monaten brach das ›nationale Theater‹ jämmerlich zusammen, und gerade an
diesem Exempel wurde zum ersten Male offenbar: neun Zehntel von dem,
was die Welt als Wiener Kultur des neunzehnten Jahrhunderts feierte,
war eine vom Wiener Judentum geförderte, genährte, oder sogar schon
selbstgeschaffene Kultur.
Denn gerade in den letzten Jahren war – ähnlich wie in Spanien vor dem
gleich tragischen Untergang – das Wiener Judentum künstlerisch produktiv
geworden, allerdings keineswegs in einer spezifischen jüdischen Weise,
sondern indem es durch ein Wunder der Einfühlung dem Österreichischen,
dem Wienerischen den intensivsten Ausdruck gab. Goldmark, Gustav Mahler
und Schönberg wurden in der schöpferischen Musik internationale Gestalten,
Oscar Straus, Leo Fall, Kálmán brachten die Tradition des Walzers und der
Operette zu einer neuen Blüte, Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Beer-
Hofmann, Peter Altenberg gaben der Wiener Literatur einen europäischen
Rang, wie sie ihn nicht einmal unter Grillparzer und Stifter besessen,
Sonnenthal, Max Reinhardt erneuerten den Ruhm der Theaterstadt über die
ganze Erde, Freud und die großen Kapazitäten der Wissenschaft lenkten die
Blicke auf die altberühmte Universität – überall, als Gelehrte, als Virtuosen,
als Maler, als Regisseure und Architekten, als Journalisten behaupteten sie im
geistigen Leben Wiens unbestritten hohe und höchste Stellen. Durch ihre
leidenschaftliche Liebe zu dieser Stadt, durch ihren Willen zur Angleichung
hatten sie sich vollkommen angepaßt und waren glücklich, dem Ruhme
Österreichs zu dienen; sie fühlten ihr Österreichertum als eine Mission vor der
Welt, und – man muß es um der Ehrlichkeit willen wiederholen – ein Gutteil,
wenn nicht das Großteil all dessen, was Europa, was Amerika als den
Ausdruck einer neu aufgelebten österreichischen Kultur heute bewundert in
der Musik, in der Literatur, im Theater, im Kunstgewerbe ist aus dem Wiener
Judentum geschaffen gewesen, das selbst wieder in dieser Entäußerung eine
höchste Leistung seines jahrtausendalten geistigen Triebes erreichte. Eine
durch Jahrhunderte weglose intellektuelle Energie verband sich hier
einer schon etwas müde gewordenen Tradition, nährte, belebte, steigerte,
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286